ÜBER DIE FRÜHEN VIOLONCELLI

1) Was ist ein Barockcello?

2) Die Violoncelli und die Bassgamben

3) Kinneys Einteilung der frühen Violoncelli

4) Das Repertoire der frühen Violoncelli

5) Die Normierungen des Violoncellos und des Violoncellspiels

6) Abschließende Beobachtung: Das Symphonieorchester und die Ernste Musik

 

1) Was ist ein Barockcello?

Die Epoche dessen, was wir heute als ‘Barockcello’ bezeichnen, umfasst die späte Renaissance, die Barockzeit sowie die Vorklassik – also etwa die Zeit von 1540 bis 1770. Dieser Zeitraum entspricht der ersten Hälfte der Geschichte des Violoncellos. In dieser Zeit finden wir kein einheitliches Instrument namens ‘Violoncello’ vor, stattdessen eine schwer überschaubare Fülle an zum Teil sehr unterschiedlichen kleineren Bass-Instrumenten (‘Violoncelli’). Das heutige Barockcello jedoch folgt in der Regel den Normierungen des späten 18. Jahrhunderts und unterscheidet sich nur wenig von dem danach folgenden ‘Klassikcello’. Manchmal zählt man daher auch die Zeit der Wienerklassik bzw. des Klassikcellos hinzu, da sich diese Instrumente auch bezüglich Spielpraxis nur wenig von heutigen Barockcelli unterscheiden. So betrachtet, erstreckt sich die Epoche des Barockcellos bis 1830. Auch die dann folgende Zeit der Frühromantik und der frühen Hochromantik sind Gebiete, mit denen man sich in der Historischen Aufführungspraxis auseinandersetzt, weil auch diese Epochen sich in Bezug auf Spielpraxis und Instrumentarium vom heutigen modernen Spiel deutlich unterscheiden. In diesem Text ist jedoch, wenn über die Epoche der Barockcelli gesprochen wird, die Zeit vor 1770 gemeint.

Heute unterscheiden wir drei Kategorien von Barockcelli:

1) Originalinstrumente aus der Epoche des Barockcellos, die im Lauf der Zeit nie modernisiert worden sind. Zu dieser Kategorie gehören vor allem Museumsobjekte, da im Prinzip alle qualitativere Instrumente im 19. Jahrhundert modernisiert wurden.

2) Originalinstrumente aus der Epoche des Barockcellos, die zwar im 19. Jahrhundert modernisert bzw. umgebaut wurden, heute jedoch im Zuge der historischen Aufführungspraxis wieder mit mehr oder weniger Konsequenz zum Originalzustand restauriert worden sind.

3) Neugebaute Instrumente nach Vorbildern aus der Zeit des Barockcellos.

Die heutigen Barockcelli, ob es sich um Neubauten oder alte restaurierte Instrumente handelt, haben in der Regel den gleichen Hals, die gleiche Mensur und gleiche Größe wie ein modernes Cello und sind wie diese in der Regel mit vier Saiten bespannt. Sie können daher relativ leicht auch von moderne Cellisten gespielt werden. Jedoch gibt es einige entscheidende Unterschiede: Der barocke Stimmstock ist etwas dünner als der moderne, der Bassbalken ist kürzer, der Steg ist anders geformt und das Griffbrett aus einem leichteren Holz gebaut. Zusammen mit den unumsponnenen Darmsaiten verändert dies den ganzen Charakter des Instruments.

Die Gespanntspannung auf einem Streichinstrument steigt bei Stahlsaiten um fast das doppelte. Alte Instrumente wurden häufig mit extra Holzeinlagen verstärkt, um diesem Druck standzuhalten. Was man bei den Stahlsaiten an Kraft gewinnt, verliert man im Bezug auf Deutlichkeit und Textur. Da Barockmusik eine sprechende Musik ist, sind Stahlsaiten ungeeignet. Darmsaiten sind aber keinesfalls spezifisch für Barockinstrumente. Die Stahlsaiten kamen erst in den 1920ern, also wurde auch die Spätromantik und die Klassische Moderne auf Darmsaiten gespielt (1). Darüberhinaus wird ein Barockcello mit einem Barockbogen gespielt. (Auf die verschiedenen Bögen und Bogenhaltungen wird in diesem Text nicht näher eingegangen).

 

2) Die frühen Violoncelli und die Bassgamben

Der Begriff Violoncello taucht erst Ende des 17. Jahrhunderts auf und setzt sich dann im Verlauf des 18. Jh. durch. Davor gab es viele verschiedene Bezeichnungen. Im 16. und frühen 17. Jahrhundert galt die Bezeichnung nicht dem Instrument, sondern der Stimmlage, und diese wurde durch die Körperhaltung beschrieben. Instrumente in den tieferen Stimmlagen wurden in Beinlage gespielt. Gamben bzw. ‘Beininstrumente’ waren also Bassgamben und Violoncelli. Instrumente in den höheren Stimmlagen wurden auf dem Arm (Braccio) gehalten. ‘Viola da braccio’, bzw. ‘Bratsche’, war daher die Bezeichnung für Diskantinstrumente. Im 17. Jahrhundert wandelten sich diese Begriffe, und ‘Gambe’ galt, im Gegensatz zu der eigentlichen Bedeutung des Wortes, für alle Instrumente, die der ‘Gambenfamilie’ zugehörig waren – egal ob auf dem Bein oder auf dem Arm gehalten. Instrumente der Violinfamilie wurden alle als Bratschen bezeichnet, ebenfalls unabhängig davon wie sie gehalten wurden oder in welcher Stimmlage sie klangen (2). Für das Violoncello finden wir daher Bezeichnungen wie, in Italien, Basso di Viola da braccio, oder bei Michael Praetorius: Tenor-Geig da braccio bzw. Bass-Geig da braccio.

Diese seltsame und auf den ersten Blick unlogische Verdrehung der Begriffe ‘Braccio’ und ‘Gambe’ ist nicht uninteressant; sie deutet auf eine Dominanz der Gambeninstrumente in den tiefen Registern und von den Violininstrumenten in den hohen Registern. Im Diskantregister hatten die Violinen, dank ihres runden und tragenden Klangs die Diskantgamben verdrängt. Im Bassregister waren diese Qualitäten zum Verhängnis geworden; der warme Klang des Violoncellos kann bei tiefen Tönen verschwommen werden, während Gamben dank ihres Obertonreichtums auch im Bassbereich deutlich in der Ansprache sind. Die Gambeninstrumente behielten im Bassbereich der Vormachtsstellung bis in das 18. Jahrhundert hinein – also etwa 200 Jahre lang, in Frankreich und England sogar noch länger. Während die Violinen in den hohen Registern ohne Konkurrenz blieben, wurden jedoch die Aufgaben der Bassgamben zunehmend auch von den verschiedenen Violoncelli ergänzt bzw. übernommen. Hinzu kamen verschiedene Mischformen zwischen Violoncelli und Bassgamben – der Kontrabass ist bis heute eine solche Mischform geblieben. In Regionen wie Nordfrankreich und den Niederlanden, wo die Gambe vorherrschend war, findet man fünf- und sechssaitige Violoncelli mit einer Mensur, die an die Bassgambe angeglichen war. Sie konnten ohne Schwierigkeiten von Gambisten traktiert werden. Es ist daher historisch legitim, Gambenmusik auf einem Barockcello zu spielen. Man findet auch Zentren, wo sich das Violoncello gegenüber der Bassgambe durchsetzte, wie Bologna im späten 17. Jh. mit den Cellisten an der Capella di San Petronio, oder auch Venedig im frühen 18. Jh., wo u.a. Vivaldi Musik für das Instrument schrieb. Sehr besonders war auch Johann Sebastian Bachs großes Interesse für das Instrument. Bei allen dreien – den Bolognesern, den Venezianern und bei Johann Sebastian Bach – wurden aber gleichzeitig verschiedene Violoncelli eingesetzt. Die verschiedenen Formen lassen sich grob kategorisieren in ein größeres Instrument, etwa das heutige Violoncello oder etwas größer, und ein etwas kleineres fünfsaitiges Instrument. Frühe Einteilungen der Streichinstrumente sahen häufig fünf Instrumente vor, anstatt wie heute vier. In Michael Praetorius’ Syntagma musicum (1619), wie auch in Bolognas Capella di San Petronio (um 1670) und in der allemanischen Schule findet man solche Einteilungen. Die große Spannbreite zwischen Bratsche und Kontrabass, die das Violoncello zu füllen hat, bräuchte, um allen Stimmlagen gerecht zu werden, zwei Instrumente. Bei der Einteilung in vier Instrumente (Violine –Viola – Cello –Kontrabass) fehlt es kurioserweise an einer Tenorstimme. Wo Einteilungen in fünf Instrumente gemacht wurden, entsprach der Tenorlage das kleinere, häufig fünfsaitige Violoncino.

 

3) Kinneys Einteilung der frühen Violoncelli

1960 machte der Musikwissenschaftler Gordon James Kinney in seiner Abhandlung über das frühe Cellorepertoire eine Zusammenstellung, in der er die frühen Violoncelli in fünf Gruppen einteilte. Zu jeder Gruppe kamen verschiedene Untergruppierungen. Man muss dazu bemerken dass das größte Violoncello fast so groß wie ein kleinerer Kontrabass war und das kleinste fast so klein wie eine Bratsche. Die Einteilung in zwei Instrumente, ein größeres und ein kleineres, ist also eine radikale Vereinfachung. Aber es ist ein guter Kompromiss, zu dem heutige Barockcellisten häufig greifen. Beide Instrumente können sowohl als Bass- wie auch als Soloinstrumente eingesetzt werden. Auf Kinneys Liste entsprechen diese Instrumente einem Violoncello Normale in der Vollgröße und einem Violoncino. Kinney benutzt leicht verständliche Bezeichnungen, die auch später in diesem Text verwendet werden. Hier eine vereinfachte und leicht geänderte (kursiv) Darstellung von Gordon James Kinneys Liste:

Violoncello Grosso (Korpuslänge 81-86)

Verschiene Bezeichnungen: ‘Bass-Geig da Braccio’, ‘Gros Quint-Bass’ (Praetorius), ‘Basse de Violon’ (Mersenne), ‘Bassette’ (L. Mozart)

4-Saiten: B, F, c, g (Korpuslänge 81-83)

5-Saiten: F, C, G, d, a (Korpuslänge 84-86)

 

Violoncello Grande (Korpuslänge 76-80)

Diese Instrumente wurden von Quantz für Orchesterbegleitung bevorzugt. Stradivari’s Instrumente vor 1701 hatten diese Größe.

Stimmung B, F, c, g (Korpuslänge 78-80)

Stimmung C, G, d, g / C, G, d, a

 

Violoncello Normale (Korpuslänge 72-75.8)

‘Vollgröße’ (Korpuslänge 74-75.8) C, G, d, a (g)

‘7/8’ bzw. ‘Damengröße’ (Korpuslänge 72-74); 4, 5 oder 6 Saiten / Die Mensur (der Griff der linken Hand) ist der gleiche wie auf einer Bassgambe.

 

Violoncino (Korpuslänge 67-70, ‘3/4’)

Ein kleineres Violoncello mit vier oder fünf Saiten. Manchmal als ‘Kindgröße’ bezeichnet. Heutzutage häufig fälschlicherweise als ‘Violoncello piccolo’ bezeichnet. In Deutschland finden wir um 1700 für Instrumente dieser Größe den Begriff ‘Solovioloncello’. Wahrscheinlich sind viele Solowerke, auch von Vivaldi und vielleicht sogar von Boccherini, für eines dieser Instrumente gedacht.

 

Violoncello piccolo (Korpuslänge 54-60, ‘1/2’)

Das kleinste Instrument der Cellofamilie. Dieses vier- oder fünf-saitige Instrument wurde um den Hals gehängt und wie eine große Bratsche gespielt. Italienische Bezeichnungen waren ‘Violoncello da spalla’ (Schulter) und ‘Viola da spalla’.

 

4) Das Repertoire der frühen Violoncelli

(Die in diesem Abschnitt zusammengestellten Listen dienen dem Zweck einer Darstellung der Entwicklung des Violoncellos und des Violoncellspiels. In dem großen Repertoire der frühen Violoncelli bieten sie nur einen winzigen Aspekt.)

Die Entwicklung der frühen Violoncelli lässt sich durch ihr Repertoire darstellen, aber der Begriff ‘Violoncello’ taucht erst 1665 auf. Wenn wir in die Zeit davor zurückkehren, verlieren sich die Spuren. In dieser Frühphase des Cellos – also etwa die ersten 120 Jahren – war die Musik nur selten instrumentspezifisch gedacht. Häufig wurde nur der Stimmlage angegeben, wie bei den Canzonen ‘a basso solo’ von Frescobaldi. Ein und das gleiche Werk konnte häufig auf Streichinstrumenten wie auch auf Blasinstrumenten oder sogar gesanglich vorgetragen werden. Die späte Renaissance und der frühe Barock gehören zu den reichsten Epochen in der Musik, und die Fülle an überlieferten Instrumenten zeugt von einer intensiven Auseinandersetzung mit den kleinen Bassinstrumenten, auch in den mittleren Stimmlagen. Trotzdem wäre es riskant, hier von einem ‘Cellorepertoire’ zu sprechen. Natürlich gab es keine Cellokonzerte – die kamen erst im 18. Jahrhundert auf. Und auch keine sonstige Musik für Solostimme mit Begleitung – wir befinden uns ja hier in der Epoche der Kontrapunktik, wo keine Stimme einer anderen Stimme untergeordnet ist.

Obwohl es keine direkte Verwandtschaft zwischen Violoncelli und Bassgamben gibt – die Violininstrumente und die Gambeninstrumente sind getrennte Familien –, ist es schwierig, die frühe Cellomusik von der Gambenmusik zu unterscheiden. Es ist davon auszugehen, dass die frühen Cellisten eigentlich Gambisten waren, und sie spielten auf dem Violoncello wie auf einer Gambe, auch bezüglich der Bogenhaltung. Die Trennung zwischen Gamben und Violoncelli scheint aber kein Thema gewesen zu sein, es fehlte an Bezeichnungen mit Trennwirkung. Beide Instrumente wurden als Gamben bezeichnet, beide Spieler als Gambisten.

Einige Werksammlungen aus der späte Renaissance und dem Frühbarock (1540-1640):

Silvestro Ganassi

Regola Rubertina / Lettione Seconda (Venedig 1542/1543)

Die didaktisch angelegten Sammlungen des venezianischen Gambisten enthalten einfache und in sich vollendete Stücke für Viola da Gamba, die auch auf dem fünf- oder sechssaitigen Violoncello vorgetragen werden können.

Orlando di Lasso

Motetti et ricercari a due voci (München, 1577)

Zum Instrumentarium schreibt im Vorwort der London pro Musica Edition Bernard Thomas: ‘Diese Stücke können gesungen oder auf einer Vielzahl von Instrumenten (Blockflöten, Gamben, Zinken, Querflöten usw.) gespielt werden. Die Tonhöhe ist in vielen Duosammeldrucken (z.B. Giamberti) recht variabel, man sollte sie daher nicht als verbindlich ansehen.’

Girolamo Dalla Casa

Canzoni da sonar con la viola bastarda (Venedig, um 1580)

Werke für die fünfsaitige Gambe ‘Viola bastarda’ lassen sich problemlos auf einem fünfsaitiges Barockcello vortragen. Es handelt sich um sogenannte ‘Diminutionssätze’. Bekannte Lieder wurden als vier- oder fünfstimmige Chormotetten auskomponiert von Komponisten wie Clemens non Papa, Orlando di Lasso, Pierluigi da Palestrina u.a. Zu diesen Chorsätzen schrieben später Dalla Casa oder auch Giovanni Bassano und Aurelio Virgiliano Diminutionen (Ornamentationen). Die Diminutionen werden zusammen mit dem Chorsatz vorgetragen. Dieser kann gesungen werden, aber auch instrumental auf einem Tasteninstrument oder auf Blas- oder Streichinstrumenten vorgetragen werden.

Giovanni Bassano

Ricercate, passaggi et cadentie (Venedig 1585)

Ein Höhepunkt der mehrstimmig angelegten Einstimmigkeit. Die Werke können auf allen Instrumenten vorgetragen werden, oder wie es im Vorwort steht: auf welchem Instrument Sie wünschen; ‘Instrumento da fiato & con la Viola’ (Blas- und Streichinstrumente). Viola war der Sammelbegriff für alle Streichinstrumente.

Aurelio Virgiliano

Il Dolcimelo (Venedig, um 1600)

Eine groß angelegte unvollendete Sammlung eines unbekannten Musikers, vermutlich Venezianer, bestehend aus 16 Soloricercate, mit verschiedenen Instrumentangaben, wie z.B. ‘per Flauto, et ogni altro instrumento’ (‘für Flöte und jedes andere Instrument’). Drei der Ricercate werden der Viola bastarda zugeschrieben.

Girolamo Frescobaldi

Il primo libro delle Canzoni a una, due, tre e quattro voci. (Rom, 1628/1634)

Die Instrumentangabe lautet: ‘Accomodate per sonare ogni sorte de stromenti’ (‘Eingerichtet für jedes Instrument’). Sieben der Canzonen sind ‘per Basso solo’. Sie können z.B. auf Dulcian, Posaune, Bassgambe oder Barockcello vorgetragen werden.

Im Hochbarock erscheinen zum ersten Mal spezifisch für das ‘Violoncello’ geschriebene Werke. Nur ist es meistens unklar, was die Komponisten unter ‘Violoncello’ verstehen. Signifikant ist, dass die drei frühesten Werksammlungen zwar zur gleichen Zeit und im gleichen Umfeld entstanden (Bologna/Modena um 1690), jedoch für unterschiedliche Violoncelli gedacht sind; ein fünf- oder sechssaitiges Violoncino (Degli Antonii), ein Violoncello Normale (Gabrielli) und ein in B gestimmtes Violoncello Grande (Galli). Die Bögen werden in dieser Zeit immer noch mit Untergriffsfassung (Gambenfassung) gehalten.

Hier folgt eine kleine Auswahl von Werken bzw. Werksammlungen aus der Zeit von 1665 bis 1710.

Giulio Cesare Arresti

12 Sonate a due e a tre, con la parte del Violoncello beneplacito (Bologna 1665)

Hier taucht zum ersten Mal der Begriff ‘Violoncello’ im Zusammenhang mit einer Werkbezeichnung auf. Die Mitwirkung des Cellos ist jedoch ‘beneplacito’ (beliebig).

Giovanni Battista Degli Antonii

Ricercate sopra il Violoncello o Clavicembalo, Opus 1′ (Bologna, um 1778, im Druck erschienen 1787)

Diese Werksammlung, bestehend aus zwölf groß angelegten Ricercate (Sätze im präfugalen Stil) für Cello solo, wurden bezüglich Umfang und Komplexität nur von den Suiten Johann Sebastian Bachs übertroffen. Die Instrumentalfrage ist nicht geklärt. Wahrscheinlich ein fünf- oder sechssaitiges Violoncino.

Siehe auch: https://cello.co/ludwig-frankmar/ludwig-frankmar-texte/degli-antoniis-ricercate/

Marin Marais

1ére Livre de Violes (Paris, 1686)

Marais’ erstes von fünf Gambenbüchern kann zum großen Teil auch auf einem fünfsaitigen Barockcello vorgetragen werden. Im Vorwort legitimiert Marais die Aufführung ohne Generalbass. Drei Jahre später gibt er eine Bassstimme heraus, in welcher er diese Aussage zurücknimmt.

Domenico Gabrielli

‘Ricercari per Violoncello solo, con un canone a due Violoncelli e alcuni Ricercari per Violoncello e Basso continuo’ (Bologna 1689)

Einer der berümtesten Cellisten der Barockzeit hinterließ eine fragmentarische Sammlung u.a. bestehend aus sieben virtuosen, quasi experimentellen Stücke für Cello solo. Das Instrument ist wahrscheinlich ein Violoncello Normale (Vollgröße) in der Stimmung C-G-d-g.

Domenico Galli

Trattenimento sopra il Violoncello a solo (Modena, 1691)

Trattenimento heißt ‘Unterhaltung’. Gallis seltsame Sonaten verwirren den gewohnten Hörer barocker Musik durch ihre Asymmetrie. Die Instrumentfrage ist geklärt, da Galli gleichzeitig mit dieser Werksammlung seinem Arbeitgeber ein von ihm gebautes Cello überreichte; ein viersaitiges, in B gestimmtes Violoncello Grande.

Der Spätbarock ist die Blütezeit der Cellomusik, wie die der Instrumentalmusik überhaupt. Ein Großteil von den bis heute maßgebenden italienischen Violoncelli werden in dieser Zeit gebaut. Am Anfang dieser Zeit wird häufig das fünfsaitige Violoncino eingesetzt. Um 1740 setzen sich viersaitige Instrumente in der heutigen Normalgröße immer mehr durch. Etwa um 1720-30 vollzieht sich der Übergang von Untergriff auf Obergriffsfassung.

Eine kleine Auswahl an Werken und Werksammlungen aus der Zeit der Spätbarock:

Johann Sebastian Bach

6 Suiten für Cello solo (um 1720)

Betitelung in der älteste überlieferte Abschrift (Johann Kellner, um 1726) ‘Sechs Suonaten pour le Viola da Baßo’

Betitelung in der Abschrift von Anna Magdalena Bach (um 1730) ‘6 Suittes a Violoncello solo senza basso’

Schon seit dem frühen 20. Jahrhundert haben sich Musikwissenschaftler mit der Instrumentalfrage im Bezug auf Bachs Cellosuiten auseiandergesetzt. Heute geht man davon aus, dass Bach schon in Weimar um 1715 anfing, an dieser Sammlung zu arbeiten, und dass sie erst zehn Jahre später in Leipzig abgeschlossen wurde. Das macht eine konkrete Feststellung des Instrumentariums schwierig, da sich in dieser Zeit die Violoncelli veränderten und Bach häufig verschiedene Violoncelli gleichzeitig einsetzte.

Siehe auch: https://cello.co/ludwig-frankmar/ludwig-frankmar-texte/bach-und-das-kleine-bassinstrument/

Antonio Vivaldi

Neun Sonaten für Cello und Basso continuo (Venedig um 1725)

Vivaldi schrieb 27 Cellokonzerte, ein Doppelkonzert für zwei Violoncelli und neun Cellosonaten. 1740 erschien in Paris eine Ausgabe von sechs Vivaldisonaten, ohne Kenntnis des Komponisten. Eine Bezifferung im französischen Stil wurde hinzugefügt. Um 1990 wurden drei weitere Sonaten entdeckt. Vivaldis Celli waren wahrscheinlich größere Viersaiter sowie kleinere Fünfsaiter (Violoncini). Es wurde jedoch nie angegeben, um welches Instrumentarium es sich bei den verschiedenen Werken handelt.

Antonio Caldara

Seidici Sonate a Violoncello solo, col Basso Continuo (Wien, 1735)

Caldara war in seiner Jugend am Markusdom in Venedig tätig. An den Lohnzetteln ist er als Spieler von ‘Violoncino’ und ‘Viola da spalla’ (Violoncello piccolo) eingetragen. Die 16 Cellosonaten sind erst vierzig Jahre später entstanden. Hier lässt das Notenbild ein viersaitiges Violoncello Normale vermuten.

Georg Philipp Telemann

Fantasies pour la Basse de Viole (Hamburg, 1735)

Telemann, der produktivste Komponist der Geschichte, schrieb für das Violoncello nur eine Sonate. Auch soll er als Bassinstrument die Gambe bevorzugt haben. 2015 wurde seine Sammlung von zwölf Fantasien für Bassgambe wiederentdeckt. Die Werke sind sehr instrumentspezifisch und verwenden alle Saiten der Gambe, auch in den mittleren und tiefen Registern. Sie sind daher zum Teil schwierig auf dem Cello zu spielen.

Zwischen dem Spätbarock und der Wienerklassik liegt die schwer einzuordnende Zeit des Frühklassik, bzw. ‘Vorklassizistischen Übergangsphase’ (1730-1770), die sich zum Teil mit Spätbarock und Wienerklassik überschneidet. Ein neuer galanter Stil trennt diese Musik deutlich vom Barock, jedoch kann man keine eindeutige Entwicklung in Richtung Wiener Klassik feststellen.

Jean-Baptiste Barriére

Sonates pour le violoncelle, avec la basse continue, Livre 1 (Paris, 1733)

Der bedeutendste französische Cellist schrieb erstaunliche, quasi ‘verrückte’ Musik für sein Instrument. Insgesamt vier Bücher mit 24 Sonaten. Die Virtuosität lässt ein kleineres Instrument vermuten, jedoch, auch auf einem Violoncino ist diese Musik sehr schwierig zu spielen.

Francesco Geminiani

Sonates pour le violoncelle e Basse Continue (Dublin, um 1740?)

Das Instrument ist ein Violoncello Normale in der heutige Normalstimmung (Quintstimmung).

Carl Philipp Emanuel Bach

Drei Gambensonaten (Berlin 1745/1746/1759)

Bachs, zu der Zeit als Hofcembalist Friedrichs II. in Potsdam entstandenen Gambensonaten bestätigen seinen Ruf als der hervorragende Komponist seiner Zeit.

Der Übergang von dem, was wir heute als Barockinstrumente bezeichnen, zu modernen Instrumenten geschah stufenweise. Das Klassikcello ist heute in der historischen Aufführungspraxis eine eigene Kategorie zwischen Barockcello und Modernem Cello. Bautechnisch hat das Klassikcello jedoch größere Ähnlichkeiten mit dem Barockcello. Der Bassbalken ist zwar länger als diejenige eines Barockcellos, aber deutlich kürzer als bei modernen Cellos. Der größte Unterschied ist der Bogen, der einem modernen Bogen ähnelt, jedoch leichter und häufig auch kürzer ist. (Die ab 1820 angefertigten Bögen von François Tourtre wurden später zum Maßstab für die heutigen modernen Bögen).

Ein paar Werke bzw. Werksammlungen aus der Zeit der Wiener Klassik (1770-1830):

Luigi Boccherini

Der herausragende Cellist der Musikgeschichte. Er hinterließ zwölf Cellokonzerte und vierzig Cellosonaten. Am zentralsten jedoch ist seine Kammermusik, insbesondere die mehr als hundert Streichquintette mit zwei Violoncelli. Es ist naheliegend, aber keinesfalls bestätigt, dass dies ein kleineres und ein größeres Violoncello war. Boccherini hatte in seiner Sammlung auch ein kleineres fünfsaitiges Instrument. Jedoch geht man davon aus, dass seine Solowerke für ein Violoncello Normale gedacht sind, obwohl sie zum Teil extrem hohe Lagen verwenden.

Johann Wikmanson

Solo af Wikmanßon (Stockholm, 1781) (3)

Zwei Solostücke des Stockholmer Hofcellisten, mit Begleitung einer Violine. Die schwedischen Barockcelli waren häufig fünfsaitige Violoncini. Da Wikmanson sehr hohen Lagen verwendet, können wir annehmen, dass er ein solches Instrument spielte.

Joseph Haydn

Cellokonzert D-Dur (1783)

Haydns zweites Cellokonzert, geschrieben für den tschechischen Cellisten Antonín Kraft, der wahrscheinlich auch eine aktive Rolle im Entstehungsprozess dieses Werkes spielte. Dieses Konzert ist der Maßstab des heutigen Violoncellspiels und wird häufig als Probespielstück für Orchesterstellen verwendet. In diesem Werk handelt es sich, wie bei den nachfolgenden Werken, um ein viersaitiges Instrument in der heutigen Normalgröße.

Jean-Louis Duport

Essai sur le doigté du violoncello et sur la conduise de l’archet (Paris, 1806)

Duport war Schüler seines älteren Bruders Jean-Pierre. Die Etüden aus seinem ‘Versuch über die Fingersätze und Bogenführung des Violoncellos’ gehört heute zum Lehrwerk eines jeden Cellisten, jedoch in einer von Friedrich Grützmacher romantisierten Ausgabe, und ohne Bassstimme (das Original besteht aus 21 Etüden für zwei Violoncelli). Zudem wurde das Traktat entfernt, was bedauerlich ist, da es eine hervorragende Anleitung für das Cellospiel ist. Ludwig van Beethovens Opus 5 ist durch die Begegnung mit Jean-Louis Duport entstanden.

Ludwig van Beethoven

Cellosonaten Nr. 4 und 5, Opus 102 (Wien, 1815)

Das Violoncello wurde hier mit Werken aus Beethovens späte Zeit beschenkt. Eine Ehre, die sogar der Violine nicht zuteil wurde.

 

5) Die Normierungen des Violoncellos und des Violoncellspiels

Die heutige Spielpraxis sieht vor, dass man Barockcello ohne Stachel spielt. Das gründet sich auf französische Traktate aus dem späten 18. Jh. Das sind die frühesten Traktate über das Violoncellspiel. (4) Das Instrument, zu dieser Zeit zwar mehr als 200 Jahre alt, war in Frankreich quasi eine Neuerscheinung, die aus Italien übernommen wurde. Die Italiener hatten sich nie um Festlegungen im Bezug auf die kleinen Bassinstrumente bemüht. Auch die Art, wie diese Instrumente traktiert wurden, war höchst unterschiedlich. Je nach Instrumentgröße konnte man die Instrumente direkt auf den Boden stellen, einen Stachel oder ein kleines Podest benutzen. Die Franzosen wollten es aber aufs Genaueste festlegen: Was ist ein Violoncello? Welche Maße hat ein Violoncello? Wie spielt man auf einem Violoncello? Auch weil die Verfasser der verschiedenen Traktate von einander stark beinflusst waren, konnte man sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts darüber einigen, was ein Cello war und wie dieses Instrument gespielt werden sollte, und zwar minutiös im Bezug auf kleinste Details; wie man auf dem Stuhl saß, wie viele Zentimeter entfernt vom Steg der Bogen geführt werden sollte, und wie man zwischen den Knien bzw. auf der rechten Wade das Instrument halten sollte. Es wurde auch festgelegt, dass ein Cello ohne Stachel gespielt wurde. Erst ab 1850 setzte sich schließlich der Stachel durch, dennoch gab es bis zum Anfang des 20. Jh. Cellisten, die noch ohne Stachel spielten. Man darf daher die ganze Klassik, Frühromantik und frühe Hochromantik ohne Stachel spielen. Das ist historisch sogar konsequenter als Barockmusik ohne Stachel zu spielen.

Es ist kein Zufall, dass die Normierungen aus der Zeit vor 1800 stammen. Das Violoncellspiel sollte neben Gesang, Cembalo- und Violinspiel Studienfach im neu gegründeten Pariser Conservatoire de la Musique werden – die erste Musikhochschule Europas. Da waren Normierungen Voraussetzung. Sie sind heute ein Kennzeichen der ‘Klassischen’ Musik geworden und haben globale Gültigkeit. Als Ende des 20. Jhs. neben dem modernen Violoncello auch das Barockcello zum Studienfach an Musikhochschulen wurde, hat man sich genau wie zweihundert Jahre zuvor an den französischen Traktaten aus dem 18. Jh. orientiert. Das ‘Barockcellospiel’, das heute an den Musikhochschulen gelehrt wird, ist also eigentlich nicht ein ‘barockes’, sondern ein ‘klassisches’ Cellospiel. Das könnte auch gar nicht anders sein, weil das Traktieren auf den kleinen Bassinstrumenten in der Barockzeit sich jeder Festlegung entzieht, schon was das Instrumentarium betrifft.

Im Bezug auf das Instrumentalspiel war Normierung gleichbedeutend mit Technifizierung. Damit ist hier nicht Virtuosität gemeint, das hatte es immer gegeben. Die Anfänge der Technifizierung sind in den französischen Traktaten überliefert. Bemerkenswert ist, wie wenig hier von Musik die Rede ist. Stattdessen ausführliche technische Instruktionen und Fingerübungen. Das hatte es vorher nicht gegeben.

Alle Instrumente des Symphonieorchesters sind Normierungen, die aus älteren Instrumenttypen hervorgegangen sind. Für die frühen Violoncelli waren die Folgen dramatisch. Schon vor 1800 galten die frühen italienischen Instrumente als Ideal. Um diese Instrumente weiterhin spielen zu können, mussten sie den neuen Maßstäben angepasst werden. Viele Instrumente wurden kleiner geschnitten. Nicola Amatis Celli waren riesig gewesen. Stradivari hatte neben Celli in der heutigen Normalgröße, die heute Maßstäbe geworden sind, auch um dreißig sehr große Violoncelli gebaut. Es gab auch kleinere Instrumente, die dann vergrößert wurden. Viele dieser Umbauten können nur als Massakern beschrieben werden. Viele wurden aber sehr kunstvoll gemacht. Auf jeden Fall waren die Instrumente nach den Umbauten zu anderen Instrumenten geworden. (5)

Kaum ein Instrument hat sich im Übergang von Barock auf Klassik so gewandelt wie das Violoncello. Im Musiklexikon von Sébastian de Brossard (Paris, 1703) wird das Instrument noch als ein kleiner Violone (Kontrabass) mit fünf oder sechs Saiten beschrieben. Später, in einem Essay von Jean Baptiste Laborde (1780) heisst es, dass man davon ausgehen kann, dass das Instrument im frühen 18. Jahrhundert fünf Saiten hatte (C-G-D-a-d), dass aber fünfzehn oder zwanzig Jahre später ihre Anzahl auf vier reduziert wurde. Es war ein Cellist namens Martin Bertaud (*1691), der eine erstaunliche Fähigkeit in den hohen Lagen zu spielen entwickelt hatte, was die hohe Saite mit der Zeit überflüssig machen sollte. Sie wurde entfernt und kam ab etwa 1750 nicht mehr vor (6). Bertaud war Lehrer von Jean-Pierre Duport, der später zum Hofe Friedrichs des Großen in Potsdam kam. Davor war Duport in Paris Luigi Boccherini begegnet. Der später in Madrid tätige Boccherini war der größte Cellovirtose seiner Zeit und verwendete in seinen Werken die hohen Lagen mehr als alle Komponisten davor und dannach. Die neue Spielart verbreitete sich schnell über ganz Europa. Wegen der kürzeren Saitenlänge in den hohen Lagen sprachen die Saiten leichter an, und der Abstand zwischen den Tönen wurde grifftechnisch wesentlich kleiner. Die hohen Lagen (die ‘Daumenlage’) erlaubten also den Cellisten ein virtuoses Spiel, vergleichbar sogar mit den Violinen (7), und, noch wichtiger: Dank der hohen Lagen konnten zum ersten Mal kurze Saiten mit dem Klang eines großen Klangkörpers verbunden werden. Der Erfolg war so groß, dass man bis heute das Violoncello v.a. mit diesem singenden Klang in Verbindung setzt. Das Cello verbindet man heute daher mit Qualitäten, welche die frühen Instrumentenbauer nicht kannten.

 

6) Abschließende Beobachtung: Das Symphonieorchester und die Ernste Musik

Die hier beschriebenen Normierungen des Violoncellos und Technifizierungen des Violoncellspiels waren, wie erwähnt, Voraussetzungen dafür, dass das Cellospiel zum Studienfach an den Konservatorien werden konnte, und diese Normierungen / Technifizierungen sind seither durch die Konservatorien aufrechterhalten worden. Der konkrete Grund dieser Neuordnung in der Musik war das Entstehen des Symphonieorchesters. Diese Riesenklangkörper, um das zehn- bis zwanzigfache größer als deren Vorgänger aus Barock und Renaissance, konnte nur durch eine stramm organisierte Musikwelt realisiert werden. Diese Neuordnung stellt eine unüberbrückbare Distanz zu der alten Kirchenmusiktradition bzw. zu der ungeordneten Musikwelt der Renaissamce und des Barock dar.

Der Übergang von Kirchenmusik zu Konzertmusik ist die größte Umwälzung der Musikgeschichte überhaupt. Nur aus dieser Perspektive werden die verschiedenen und z.T. verwirrenden Unterschiede zwischen den alten und den neuen Instrumenten verständlich. Auch die bautechnischen Details wie der kräftigere Bassbalken. Das stimmt mit den unterschiedlichen akustischen Verhältnissen einer Kirche und einer Konzertlokalität überein. Auch die Normierungen und Technifizierungen des Instrumentalspiels passt in dieses Bild. Man muss bedenken: Bach hatte in seinen Kantaten nur einen Violone (Kontrabass) und ein Violoncello eingesetzt. Ein volles Symphonieorchester hat neun Kontrabässe und zwölf Celli. Die Symphonieorchester wurden daher geprägt, ja überhaupt erst ermöglicht durch eine Disziplin, die in den Militärkapellen ihren Wurzeln hatte. Die Verbindung ist offenbar: Reglementiert gekleidete Musiker formiert in Gruppen und Reihen und davor der Dirigent, der wie ein Tambourinmeister den Takt angibt.

Das Symphonieorchster ist der Dinosaur der Musikgeschichte und mit keinem anderen Ensemble vergleichbar. Es übertrifft alle anderen Ensembles. Zur Zeit seiner Entstehung machte es einen gewaltigen Eindruck auf die Menschen. Sein Einfluss auf den späteren Verlauf der Musikgeschichte ist enorm, um nicht zu sagen vernichtend. Während bei Beethoven und Schubert noch die Kammermusik der eigentliche Kern ihres Schaffens war, konzentrierten sich die Spätromantiker fast ausschließlich auf symphonische Musik. Problematischerweise führten die Normierungen dazu, dass der Klangkörper des Symphonieorchsters konserviert wurde; das heutige Symphonieorchester ist auf dem Entwicklungsstand von etwa 1880-1890 stehengeblieben. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts stagnierte auch das Repertoire. Die Normierungen machten es zudem schwierig für das Symphonieorchester, sich der Historischen Aufführungspraxis anzuschließen. Es ist deshalb verständlich, dass die Symphonieorchester diese neue Bewegung in den 1960ern und 1970ern ablehnten.

Die Epochen der Alten und der Neuen Musik werden von Musikern sehr individuell eingeordnet. Je nachdem wie man die Musikgeschichte interpretiert, wird die Trennlinie irgendwo zwischen 1750 und 1850 gezogen. Auf der einen Seite die alte Kirchenmusiktradition und die Höfische Musik; hinter den Begriffen Renaissance und Barock stecken Spektren von unterschiedlichsten Stilformen. Auf der anderen Seite die (bekanntere) Epoche der klassisch-romantischen Musik sowie ihre erstaunliche Fortsetzung im 20. Jahrhundert. Auch hier ist die Fülle an Musikstilen enorm. Heute wird dieses sperrige, umstrittene, aber großartige musikalische Erbe völlig anders wahrgenommen. Unabhängig von Epochen und Stilrichtungen wird die gesamte europäische Musiktradition schlicht als ‘Klassik’ eingestuft. Das geht zurück auf die Aufteilung in ‘Klassik’ und ‘Pop’, eigentlich ‘Ernste Musik’ und ‘Unterhaltungsmusik’. Angesichts dessen, dass man sich durch die Musikgeschichte hindurch stets um einen ausgewogenen Einklang zwischen diesen Qualitäten bemüht hat, ist diese Einteilung für Musiker irritierend. Die Einteilung war aber nicht musikalisch, sondern kulturpolitisch gemeint. Sie war notwendig, um durch Subventionen das Fortleben des Symphonieorchsters – die sich im 19. Jh. zum wichtigsten Kulturträger europäischer Musik etabliert hatte –, zu retten (8). Das Problem fing an, als diese Einteilung Eigendynamik bekam, als nicht nur Kulturpolitiker, sondern auch Musiker in diesen Kategorien zu denken begannen. Das bedeutete für E-Musiker: Verzicht auf Unterhaltsamkeit, und für U-Musiker: Verzicht auf Ernsthaftigkeit. Hiermit fing eine irrwitzige Entwicklung an. In der E-Musik entstand die zwar faszinierende, aber doch vollkommen künstliche Musikkultur der ‘modernen’ bzw. ‘avantgardistischen’ Musik, wo, um Unterhaltsamkeit zu umgehen, in der Tat zu musikalischen Inhalten (Harmonik, Melodik und Rhythmik) Abstand genommen wurde. Das bedeutete zwangsläufig Abkoppelung von der eigenen Tradition. Das gleiche geschah in der U-Musik. Die frühen Rockmusiker waren sich ihrer Tradition sehr bewusst gewesen, aber die heutige Jugendmusik steht nicht mehr in der Tradition von Blues oder Rock. Sie ist eine hyperkommerzielle Großindustrie geworden. E- und U-Musik ist heute musikalische Realität. Musikalisch betrachtet ist das ein Albtraum.

In ‘Die Zeit’ gab es 2004 (Ausgabe 19) eine Debatte zwischen den beiden Seiten. Repräsentant für ‘E-Musik’ war Helmut Lachenmann. Repräsentant für ‘U-Musik’ war Dieter Bohlen. Jetzt wurde der Frage gestellt: Wenn Johann Sebastian Bach heute gelebt hätte, zu welche Seite hätte er gehört? Hätte man sich um Mozart oder Beethoven-Anspruch gestritten, wäre das etwas anderes gewesen. Aber Johann Sebastian Bach? Bach war Kirchenmusiker. Da greifen diese Einteilungen nicht. Dem Streit zwischen E- und U-Musik fehlt es im Grunde am Inhalt. Die eigentliche Auseinandersetzung liegt viel tiefer begraben. Sie geht zurück auf den Übergang von Kirchenmusik zu Konzertmusik im 18. Jh. Dieser Konflikt ist der Rote Faden der Musikgeschichte der letzten zweihundert Jahren. Der Streit zwischen E und U ist hierfür viel zu harmlos. In der historischen Aufführungspraxis geht es im Grunde um diese Fragen. Es ist eine Bestrebung, die Tradition wiederzufinden, wiederzubeleben. Da sind alle Details sehr wichtig. Auch die Frage nach Darmsaiten und Bassbalken.

 

(1) Eine gerade angespielte Stahlsaite klingt ziemlich flach, weshalb sich das durchgehende Vibrato durchsetzte. Dieses Vibrato ist also keine Erfindung der Romantik, sondern kam erst mit den Stahlsaiten. (Von hier kommt vermutlich das Missverständnis, dass man in der alten Musik nie vibrieren soll). In vielen alten Tonaufnahmen ist das Spielen auf Darmsaiten dokumentiert. Zum Beispiel die Aufnahmen der Brahms-Symphonien mit Bruno Walther und dem Columbia Records Symphony Orchestra. Die meisten Streicher aus der Generation von Pablo Casals oder Jascha Heifetz spielten ihr Leben lang auf Darmsaiten.

 

(2) Im Bezug auf die Gambe hat sich diese Bezeichnung gehalten. Im Bezug auf die Instrumente der Violinfamilie ist das nicht der Fall. Niemand bezeichnet heute ein Violoncello oder einen Kontrabass als ‘Bratsche’.

 

(3) Herausgegeben von Bernt Malmros bei Warner/Chapell Music 1998.

 

(4) Sämtliche im 18. Jahrhundert erschienenen französischen Traktate über das Violoncellspiel wurden 1998 als Faksimilen bei Editions Jean-Marc Fuzeau herausgegeben (260 Saiten).

 

(5) Der Geigenbauer John Dilworth in dem Artikel ‘Just a trim, Sir?’ in The Strad Magazine Juli 2017.

 

(6) Ob die neue Spieltechnik wirklich der Grund war, weshalb die hohe Saite sich verabschiedete, ist umstritten. Es könnte auch mit Materialproblemen zusammenhängen, da die E-Saite auf einem Violoncello der Normalgröße leicht überspannt werden kann. Es kann auch sein, dass man wegen Normierungen diese Saite entfernte; das Violoncello wurde der Violine und der Viola mit vier Saiten in Quintenstimmung angepasst.

 

(7) Aus Jean Benjamin Laborde Essay (1780): […] ‘Herr Bertrand trug am meisten zu der Perfektion des Cellospiels bei, durch die erstaunliche Art, mit welcher er spielte. Seit diesem geschickten Meister waren es Herr Duport und Herr Janson, die es auf die letzte Stufe trugen, indem sie alles auf diesem Instrument vortrugen, was man auch auf einer Violine vortragen kann’.

 

(8) Zwischen 1992 und 2016 wurden in der Bundesrepublik 19% der Orchesterstellen, in den neuen Bundesländern sogar 37% abgebaut.

 

 

Text: ©Ludwig Frankmar 2019