MUSIK NACH 1945

Wie die Musikalische Tradition sich aus der Geschichte verabschiedete.

Wohin entwickelte sich der Musik nach 1945? Dieses kontroverse Thema wird hier als ein Streitgespräch zwischen Musikern dargestellt. Obwohl dieses Gespräch so nie stattgefunden hat, ist dieser Artikel so entstanden – aus Gesprächen mit verschiedenen Musikern.

»Ich erinnere mich daran, wie wir in den späten 70-ern, als ich ein junger Musikstudent war, über Musik sprachen. Was war die zeitgenössische Musik damals? Ich glaube, dass es eine allgemeine Ansicht gab, dass die eigentliche zeitgenössische Musik für uns verdeckt war, wegen ihrer Komplexität für uns Zeitgenossen nicht zugänglich, nicht sichtbar. Dass erst Menschen der Zukunft sie verstehen würden. Im Nachhinein ist mir diese Einstellung völlig unbegreiflich.«

»Es ging nicht nur jungen Musikstudenten so. Alle hatten dieses Problem. Man konnte die neue Musik nicht einordnen. Manchmal sprach man schlicht von ‘Moderner Musik’, aber diese Bezeichnung war eigentlich schon besetzt von dem Begriff ‘Klassische Moderne’; die neue Wiener-Schule und die Neoklassiker.«

»Es gab eine andere Bezeichnung: Nachkriegsavantgardismus.«

»Aber wie lange dauerte denn der Nachkriegsavantgardismus an? Befinden wir uns noch heute in der Entwicklung des Nachkriegsavantgardismus?«

»Ich meine nur, dass wir damals nicht wussten, wo die Musikgeschichte sich befand oder wo sie sich hinbewegte. Es gab verschiedene Zentren. Es gab Paris mit Pierre Boulez und IRCAM. Es gab diese neurotische Musik aus der BRD, etwa aus dem Studio für elektronische Musik in Köln. Vielleicht war die neue Musik aus der BRD der eigentliche Nachkriegsavantgardismus. Ich glaube, dass man es allgemein als eine traumatisierte Musik aufgefasst hat. Aber die Musik aus der Sowjetunion wirkte nicht traumatisiert. Dort wurde die Klassische Moderne fortgesetzt. In Deutschland war sie 1945 zu Ende gegangen.

»Im Nachhinein betrachtet ist es erstaunlich, dass es den neuen Komponisten im Westen gelungen ist, sich durchzusetzen. Eine solch wesensfremde Musik. Man konnte darin kaum Spuren der Tradition finden.«

»Ob es ihnen gelungen ist … Das ist fraglich. Ich denke, sie haben die Menschen nicht erreicht.«

»Aber sie übernahmen die Leitung. Sie besetzten die Positionen. Sie waren plötzlich überall.«

»Es war suspekt. Es wurden eine Menge neue Lehrstühle für Komposition eingerichtet. Nie zuvor sind so viele Komponisten ausgebildet worden. Aber kaum Jemand kannte ihre Musik.«

»Es brauchte dringend eine Erneuerung. Die traditionelle symphonische Musik war altmodisch geworden. Sie gehörte in ein anderes Jahrhundert. Das war, glaube ich, für alle offensichtlich.«

»Was verstehst Du eigentlich unter Tradition? Ist das Symphonieorchester der Verfechter unserer Tradition?«

Im Verlauf des 19. Jhs. hatte sich das Symphonieorchester als wichtigster Träger europäischer Musiktradition etabliert. Aber wie sollte der Riesenklangkörper organisiert und finanziert werden, wenn er aus der Mode gekommen war? Bekanntlich ist das heutige Symphonieorchester etwa auf der Entwicklungsstufe von 1880-1890 stehengeblieben, und seit etwa einem halben Jahrhundert hat sich sein Repertoir nicht erneuert. Zum ersten Mal in der Musikgeschichte hat hier das Instrumentarium aufgehört, sich zu verändern. Dass heutige Komponisten Schwierigkeiten haben oder es gar für unmöglich halten, eine Musik zu schreiben für einen Klangkörper, der für die Spätromantik aufgestellt worden ist, liegt auf der Hand. Dieser Umstand mag der Hauptgrund sein, weshalb unsere Zeit keine eigene musikalische Sprache entwickeln konnte.

»Tradition ist ‘das was weitergegeben wird’. Die Tradition hört demnach nicht auf, weil ein neuer Stil – welcher auch immer – einen älteren Stil ersetzt. Sie hört auch nicht auf, weil gewisse Qualitätsmerkmale in der Musik nicht wiederzufinden sind. Erst wenn nichts mehr weitergegeben wird, ist die Tradition zu Ende. Lass uns ehrlich sein, Konturen einer musikalischen Tradition sind im 21. Jh. weder von der Allgemeinheit noch von Berufsmusikern mehr zu erkennen.«

»Die Kompositionsmusik nach dem Krieg war extrem experimentell. Es ging um Umsturz. Um Revolte. Auch in der Rockmusik ging es darum.«

»Die Rockmusik atmete förmlich Revolte und Freiheit.«

»Das kann sein. Aber ihre musikalische Sprache war konform; fröhlich und unkompliziert. Niemand war entsetzt über Harmonik oder musikalische Strukturen bei Beatles und Stones, man war nur entsetzt über ihre Frisuren.«

»Frisuren sind aber wichtig!«

»Nein, eigentlich nicht.«

»Die Bewegung der 68er durchdrang alles; Frisuren, Traditionen, Musik, Politik, Religion. Sie hätten die Bezeichnung ‘Kulturrevolution’ verdient, wäre dieser Begriff nicht von der ‘Großen proletarischen Kulturrevolution’ besetzt gewesen. Es gab im Westen keine blutige Revolution, aber inhaltlich gab es zwischen diesen Bewegungen deutliche Parallelen. Beide erreichten ihren Höhepunkt in den späten 60ern und beide kamen aus der Jugend. Sie revoltierten in Westeuropa wie in China und in den USA gegen die Kultur der Elterngenerationen, also gegen die eigene Tradition, und die eigene Religion.«

Aus China kamen verblüffende Bilder von Jugendlichen, die Klöster stürmten. Sie rissen Buddhastatuen nieder und verbrannten sie, und sie wendeten sich gegen die klassische Musiktradition, chinesische wie europäische. Barbara Mittler schreibt in ihrem Essay ‘Die Kulturrevolution und das ‘Ende chinesicher Kultur’: (…) ‘Beethoven, Schubert und Brahms waren ihrer bourgeoisen Herkunft und Lebensweise wegen verschrien, Schönberg und Debussy galten als Formalisten, Tschaikowskij und Rachmaninoff wurden als Vertreter des revisionistischen Sowjetreiches gesehen und durften deshalb nicht gespielt werden’ (…)

Bekanntlich sah die kommunistische Partei dem mit Wohlwollen zu, weil die Jugendlichen das gleiche wollten wie sie. Deshalb unterstützten, organisierten und instrumentalisierten sie diese Bewegung. Es wäre riskant zu behaupten, dass die Bewegung der 68er im Westen ebenfalls politisch instrumentalisiert wurde, aber sie spielte im Kalten Krieg eine wichtige Rolle. Es ging um den kostbaren Begriff der Freiheit, und dem Westen sollte das Kunststück gelingen, diesen Begriff für sich zu besetzen. Die Rockmusik spielte diese Rolle perfekt. Ihre Sprache war English. Ihre Heimat war der Westen. Durch die Rockmusik wurden Stigmatisierungen befestigt und Grenzen gegenüber der unfreien, sozialistischen Welt gezogen. Heute ist es Alltag, dass westliche Politiker in ihren Wahlkämpfen Rockmusiker einsetzen, dass Rockmusiker im Weißen Haus aufreten, dass sie von The Queen geadelt werden. Auch ihre pragmatische Einstellung zur Religion passt. Im Westen ist nichts heilig. Wir haben dies zuletzt in der westlichen Aufmerksamkeit um den Auftritt der russischen Punkgruppe Pussy Riot in der Christ-Eröserkathedrale in Moskau gesehen, oder nach der Öffnung Kubas, wo nur Wochen später die Rolling Stones in das Land kamen, um für ein Halbmillionen-Publikum zu spielen. Nie zuvor war die Verbindung Rock-Freiheit-Kapitalismus deutlicher.

»Die Rockmusik war die verbindende Identifikation der 68er. Vielleicht war sie sogar der Kern der Bewegung, die eigentliche Botschaft. Auf der anderen Seite stand die klassische Musiktradition, die sich damit abfinden musste, die gegensätzliche Rolle zugeteilt zu bekommen: Sie galt als bürgerlich, reaktionär, langweilig.«

»Auch die zeitgenössischen Komponisten spielten im Kalten Krieg eine Rolle. Die Musik der Nachkriegsavantgardisten wurden zum Symbol künstlerischer Freiheit – Freiheit als Abwesenheit von Regeln. Alle Maßstäbe, wie eine Komposition zu klingen hatte, waren entfernt worden. Und diese Freiheit stand als Gegensatz zu der Unfreiheit des Komponisten im Sozialismus, der einen festgelegten Arbeitsauftrag hatte: er/sie sollte Musik für das Volk schreiben– für einen westlichen Avantgardisten eine geradezu absurde Idee.«

»In ihre Konsequenz bedeutete dies, dass die musikalische Tradition im Sozialismus fortgesetzt wurde. Die Sowjetunion etablierte sich auch deshalb nach 1945 als führende Musiknation, obwohl nur ein Bruchteil ihrer Komponisten im Westen bekannt wurde. Auch waren die sowjetischen Instrumentalisten maßgebend. Und auch im Osten gab es gute Rockmusik, aber sie wurde im Westen nicht wahrgenommen.«

»Der Aufstieg der Rockmusik fällt zeitlich mit dem Niedergang der Klassik zusammen. Die eine Tradition steigt auf, die andere verabschiedet sich.«

»Was? Nein, das stimmt nicht. Es fällt zeitlich eben nicht zusammen. Denk nach. Welche Musik wurde um 1960 komponiert? Im Westen schrieb Bernd Alois Zimmermann ‘Die Soldaten’. Stockhausen schrieb ‘Momente’. Boulez schrieb ‘Le Marteau sans maitre’. Luigi Nonos ‘Il canto sospesa’. Musik, die so gut wie niemand hörte. Weder damals noch heute. Erstaunlicherweise genügt es, die Kamera zwanzig Jahre zurückzudrehen, und man landet in einer vollkommen anderen musikalischen Landschaft (um 1940): Schönbergs Violinkonzert und seine letzten Streichquartette! Bartoks Konzert für Orchester. Hindemiths Mathis der Maler. Stravinskys Sinfonie in drei Sätzen. Messiaens Turangalila-Symphonie! Alles um 1940 geschrieben! Es ist also kein langsames Ausklingen oder eine sukzessive Wandlung, sondern ein abruptes Aufhören. Als die Rockmusik die Bühne betrat, hatte sich die traditionelle europäische Musik schon verabschiedet!«

Diese Aufstellung – mit acht der maßgebenden Komponisten des 20. Jhs. – stellt die erstaunliche Wandlung der Musik um 1950 dar, die wir heute als Übergang von der ‘Moderne’ zur ‘Nachkriegsavantgardistischen’ Musik einordnen.

1938     Paul Hindemith:                        Mathis der Maler

1942     Arnold Schönberg:                    Klavierkonzert

1943     Bela Bartok:                             Konzert für Orchester

1948     Olivier Messiaen:                      Turangalila-Symphonie

1955     Pierre Boulez:                           Le marteau sans maitre

1956     Karlheinz Stockhausen:             Zeitmaße / Gesang der Jünglinge

1956     Iannis Xénakis:                         Achoripsis

1956     Bernd Alois Zimmermann:         Konfigurationen

Es ist bemerkenswert, wie leicht sie sich in zwei Gruppen einteilen lässt. Bei den Werken vor 1950 handelt es sich um Meisterwerke der klassischen Moderne, die seither zum Standardrepertoir gehören. Nach 1950 hingegen stehen Werke der Nachfolgegeneration, die sich, ganz im Gegensatz zur klassischen Moderne, von der Tradition distanzierten. Wir könnten unbekanntere Komponisten oder auch spätere Werke von Messiaen und Schönberg oder auch von anderen Komponisten hinzufügen – aber wir werden den Eindruck nicht los, dass sich um 1950 eine Wandlung vollzieht: In Westeuropa wird die klassische Moderne nicht weitergeführt. Sie wurde abgelöst von einer Neuen Musik, die als ‘Nachkriegsavantgardismus’ in die Geschichte einging. Und diese Musik sollte kein gängiges musikalisches Material mehr beinhalten.

Dieser Übergang bzw. die Entstehung dieser neuen Musiktradition wurde nur verschwommen wahrgenommen, da sie in ihrem Anfang durch ästhetische Ähnlichkeiten zwischen den beiden Stilepochen verschleiert wurde. Pierre Boulez’ ‘Le marteau sans maitre’ beispielsweise kann beim ersten Hinhören verwirrende Ähnlichkeiten mit Schönbergs ‘Pierrot Lunaire’ (1912) haben, und B. A. Zimmermanns Oper ‘Die Soldaten’ (1965) erinnert an Alban Bergs ‘Wozzeck’ (1925). Die avancierte Harmonik der Wiener Schule wurde hier jedoch nicht fortgeführt, sondern durch vereinfachte Kompositionsmodelle ersetzt bzw. imitiert. ‘Stilisistische Imitation’ wurde später zum Hauptmerkmal der Nachkriegsavantgardisten. Da sie keine eigene musikalische Sprache, keine eigene Harmonik entwickelten, waren sie in ihren Werken zu jeder Art von Imitation fähig, auch im außermusikalischen Bereich. Extreme Beispiele solcher Kompositionen sind John Cages 4’33, 1952 (Werk ohne Inhalt: Imitation von Stille), oder Karlheinz Stockhausens Helikopter-Streichquartett, 1994 (Imitation von Hubschraubern).

»Ich glaube, dass es eine weit verbreitete Meinung ist, dass die musikalische Tradition nicht fortgesetzt werden konnte wegen der beispiellosen Brutalität des 2. Weltkrieges. Um mit Theodor Adornos Worten zu sprechen: ‘Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch’. Das übertrug sich auch auf die Musik. Deshalb kreierte man eine neue Musiktradition: eine Musik ohne musikalische Inhalte.«

»Heinrich Schütz schrieb seine Musik zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges…«

»Und in der Sowjetunion, dem vom Krieg am härtesten betroffenen Land, wurde, wie Du ja gerade sagtest, die Klassische Moderne fortgeführt. So betrachtet, hat sich die Aussage Adornos als falsch erwiesen. Und die Fortsetzung der Moderne wäre doch die konsequente Reaktion gewesen: Es war ja v.a. die Moderne, die von den Nazis verboten wurde.«

»Aber die Kulturpolitiker der NSDAP waren doch sehr traditionell, gegen das Neue, gegen die Moderne.«

»Du meinst, gegen die Klassische Moderne? Ja, sie bekamen ja fast ausnahmslos Aufführungsverbot. Aber die Klassische Moderne waren ja Traditionalisten. Die Moderne ist ja als Reaktion auf die Traditionslosigkeit der Spätromantiker entstanden. Die Ähnlichkeiten im Umgang mit der Moderne im 3. Reich und im Nachkriegsavantgardismus ist im Nachhinein betrachtet verstörend. Natürlich war die Kulturpolitik im 3. Reich grotesk. Aber niemand hat uns dazu gezwungen, dies nach dem Krieg fortzuführen. Wir hätten uns wieder auf die Tradition besinnen können. Die deutsche Musiktradition hätte nach 1945 restauriert werden können. Davon bin ich überzeugt.«

»Und was hätte das bedeutet?«

»Die klassische Moderne wäre fortgesetzt.«

»Also keine Atonalität?«

‘Atonalität’

Wie ein Virus schlich sich der unheilbringende Begriff in die Musikgeschichte ein, genau gesagt im Jahr 1904, als ein Wiener Musikkritiker es, um die Musik Arnold Schönbergs zu diskreditieren, erfand. Schönberg, zutiefst verletzt über das ihm zugeteilte Prädikat, verteidigte sich vehement, aber erfolglos. Er sollte in die Geschichte als ‘Gründer der Atonalität’ eingehen. (Kurz vor seinem Tod schrieb er den Text ‘Es ist meine Schuld’). Doch war so etwas wie eine atonale Musik Arnold Schönberg vollkommen fremd. Seine Freie Tonalität wie auch seine Zwölftonmusik war keine Abstandnahme zur Tonalität. Im Gegensatz wurde dadurch die Intensität seiner Tonalität und Harmonik noch erhöht.

Aber wofür steht eigentlich die umstrittene Begriff der Atonalität? Musik ohne Töne? Musik ohne Harmonik? Musik ohne traditionelle Aufteilung in Dur und Moll? Hässliche Musik? Ungermanische Musik? Jazzmusik? Arnold Schönberg? Max Reger?

Wer ihre Bedeutung eindeutig festlegen will, verzweifelt. Festlegen können wir nur, dass sich ihre Bedeutung im Verlauf des 20. Jhs. mehrmals wandelte. Im 3. Reich konnte es gleich mehrere Musikstile beschreiben. Beispielsweise schlug Wilhelm Furtwängler dem Kulturministerium der NSDAP vor, Max Regers Musik als atonal einzustufen, was nicht unlogisch ist, da Regers Musik in ihrer manchmal extremen Kompaktheit eine Komplexität erreicht, die an der Grenze zur Auflösung der Harmonik balanciert und diese auch häufig überschreitet (Regers Musik enthält manche ‘versteckte’ harmonisch gebundene Zwölftonreihen). Der Vorschlag wurde jedoch abgelehnt. Reger hatte deutsche Vorfahren.

Nach 1945 kam dem Begriff eine neue Bedeutung zu. Zunächst beschrieb er Musik ohne traditionelle Dur-Moll-Aufteilung – wie v.a. die Zwölftonmusik der Neuen Wiener Schule -, aber bald wurde er erweitert und beschrieb auch die Musik des Nachkriegsavantgardismus. Somit wurde eine trügerische Verbindung zwischen der Klassischen Moderne und dem Nachkriegsavantgardismus hergestellt. Durch diese Wandlung des Begriffs atonal konnte die Musik der Nachkriegsavantgardisten als eine ‘Reaktion auf das 3. Reich’ eingestuft werden, was Ihnen Immunität verlieh. Sie wurden zur legitimen Fortsetzung der Tradition erklärt, eine Tradition, die sie zugleich radikal ablehnten. Und nach 1950 entstand in der Tat zum ersten Mal eine Musikkultur, die als atonal, in der eigentlichen Bedeutung dieses Wortes, beschrieben werden kann. Kompositionsprozesse konnten durch mathematische Formeln ersetzt werden. Töne konnten durch Klänge und Geräusche ersetzt werden. Es handelte sich eindeutig um eine sehr experimentelle Musik. Es besteht keinerlei Grund, diese Musik zu kritisieren, da es solche Experimente und Randerscheinungen in der Musikgeschichte immer gegeben hat, aber in diesem Fall waren es bald keine Randerscheinungen mehr, nicht mehr Experiment, sondern die neue Musik wurde selbst zum Zentrum und ersetzte bald die gesamte Tradition. Niemand konnte mehr erstaunt, verblüfft oder entsetzt seinüber eine neue Form oder eine fremde Harmonik, denn so etwas wie Form oder Harmonik gab es nicht mehr. Egal was die Komponisten jetzt machten, alles war konform. Deshalb konnten in der Neuen Musik weder Experimente noch Randerscheinungen mehr entstehen. Es war eine Musikkultur ohne Opposition und ohne Entwicklung, und fast ohne Zuhörer entstanden.

»Schönbergs freie Tonalität als atonal zu bezeichnen ist natürlich Quatsch.«

»Die Idee, dass Schönberg der Gründer der Atonalität ist, diese Stigmatisierung hat sich festgesetzt. Die werden wir nicht mehr los. Und Atonalität ist nun halt das Kennzeichen der Nachkriegsavantgarde.«

»Atonalität war als entartet, als rassenfremd eingestuft. Man konnte also nach dem Krieg nicht gegen Atonalität sein. Diese Möglichkeit war absolut ausgeschlossen.«

»Ok. Aber etwas stimmt hier nicht. Das, was man im 3. Reich ‘atonal’ nannte, war etwas ganz anderes als was nach dem Krieg als atonal eingestuft wurde. Wir sollten es auf keinen Fall mit dem verwechseln, was im Nachkriegsavantgardismus als atonal galt. Diese Musik gab es ja erst nach dem Krieg!«

»Ich mag eigentlich diese verrückte Musik. Ich habe es damals immer gehört. Stockhausen natürlich. Kennt ihr die Elektronische Musik von Gottfried Michael König? Oder von Herbert Eimert? Irre.«

»Xénakis, Stockhausen, Boulez. Großartige Komponisten.«

»Ich habe diese Musik auch gehört, ich höre es heute noch. Ich bin damals fest davon ausgegangen, dass es die eigentliche Musik war. Die eigentliche Tradition. Ich dachte, es galt sie zu hören und zu studieren. Aber später stieß ich an Grenzen. Wenn man komplizierte Passagen lange übte, nur um festzustellen, dass die Töne durch Zufallsprinzip oder durch Statistik zusammengewürfelt waren. Wo ist da der Inhalt? Wo ist die Tiefe?«

»Vielleicht war Tiefe ein zu großer Anspruch geworden. Es ging um eine neue Ästhethik. Um Oberfläche. Damit dass die Musik keine Gesetze mehr kannte, gab es auch keine musikalische Grammatik mehr. Man konnte also kaum noch von musikalischer Sprache, von Inhalt sprechen. Natürlich konnte jeder beliebig Inhalte suggerieren. Aber das waren Inhalte, die nicht unbedingt in den Partituren wiederzufinden waren.«

»Das nennt man, glaube ich, Pseudotiefe.«

»Vielleicht gab es keine Optionen. Ich sehe es so: In den Bestrebungen, die deutsche Musikkultur vor nicht-arischen Einflüssen zu bewahren, hatte man im 3. Reich den Begriff entartet für rassenfremde Komponisten und Kompositionen verwendet. Entartete Musik konnte zudem als atonal eingestuft werden. Die Antwort der Nachkriegsavantgardisten auf die NS-Zeit war daher die Umkehrung dieser Begriffe. ‘Atonal’ und ‘entartet’ wurden zu Idealen erklärt. Damit hoffte man eine Brandmauer gegen die Einflüsse aus der NS-Zeit errichtet zu haben. Nur stellte sich die Frage, wie komponiert man entartete Musik? Wie komponiert und musiziert man atonal?«

»Die Musik nach 1945 als Gegenreaktion auf die NS-Zeit zu formulieren war heikel, da hierdurch das 3. Reich zum Auslöser der neuen Tradition gemacht wurde.«

»Viele glaubten sich mit der Musik der NS-Zeit auszuräumen, wenn sie sich von der Tradition und der klassischen Moderne abwendeten – also das eigentliche Gegenteil taten.«

»Es gab eine sehr starke Aufbruchstimmung. Man wollte die Tradition überwinden. Aber die eigentliche Frage ist nicht, in welcher Tradition die Nachkriegsavantgardisten standen, sondern wohin ihre Musik führte. Ich meine, es gab sicher viel Musik aus der Moderne, die Einfluss auf die Nachkriegsavantgardisten hatte. Natürlich haben sie sich auch aus der Tradition bedient, oder sich von der Moderne inspirieren lassen. Aber die zentrale Frage sollte sein: Wohin führte ihre Musik? Wer waren ihre Nachfolger? Meiner Meinung nach gibt es keine.«

»Wie meinst Du das, keine Nachfolger?«

»Ja, welche Komponisten sind eurer Meinung nach die, sagen wir, fünf wichtigsten Komponisten heute?«

(Schweigen)

»Na gut, Xenakis zählt sicher dazu.“

»Xenakis starb 2001.“

»Und Boulez starb 2016. Boulez war der Traditionalist unter den Avantgardisten. Der alte Boulez beschwerte sich ja auch darüber, dass manche junge Komponisten nicht komponieren konnten.«

»Dann sage ich Aribert Reimann. Arvo Pärt. Helmut Lachenmann.«

»Reimanns Gesänge. Das ist doch großartige Musik.«

»Welche Werke von Pärt und von Lachenmann?«

»Von Lachenmann z.B. Staub. Toll!«

»Aus den Achtzigern, glaube ich. Was findest Du daran toll?«

»Weil die Musik wirklich wie Staub klingt. Klingender Staub.«

»Diese Komponisten sind alle um 1935 geboren. Gibt es auch Komponisten der jüngeren Generationen, ich meine, wenn man von dem Erbe der Nachkriegsavantgardisten sprechen will? Pärt ist ja der Erbe sowjetischer Musikkultur, und Lachenmann ist selber ein Nachkriegsavantgardist, nicht deren Erbe.«

»Heute spielt die Filmmusik eine große Rolle. V.a. die symphonische Filmmusik. Viele große Filmproduktionen sind mit ganzen Symphonien untermahlt. John Williams Musik zu Star Wars ist vielleicht das bekannteste. Er hat sogar die Wiener Philharmoniker mit eigenen Werken dirigiert.«

»Star Wars? Das soll die Fortsetzung der Tradition sein? Mendelssohn, Brahms, Schönberg und Star Wars? Meinst Du das im Ernst?«

»Niemand kann sagen, was die Tradition ist. Niemand kann den Anspruch erheben, die Fortsetzung der Tradition zu sein.«

»Warum ist es Dir so wichtig festzustellen, wo die Fortsetzung der Tradition ist?«

»Weil ich keine Fortsetzung der Tradition erkennen kann. Und viele Musiker, das muss man auch ehrlich sagen, interessiert das wenig. Sie sind v.a. mit ihren eigenen Karrieren beschäftigt. Aber es gibt Menschen, für die war diese Musik etwas Notwendiges. Und wir, die Musiker, hatten den Auftrag, diese Tradition zu pflegen und weiterzuentwickeln. Deshalb gab es die Musikinstitutionen. Die Gesellschaft hat viel Geld in uns investiert. Und was haben wir daraus gemacht? Wir haben die ganze Tradition in den Sandgesetzt! Wenn ähnliches auf anderen Gebieten in der Gesellschaft passiert, gibt es Prozesse. Dann heißt es ‘Verschwendung von Steuergeldern’.«

(Gelächter)

»Als ich jung war, hatte ich große Erwartungen an die Musik der Zukunft. Wenn ich auf mein Berufsleben zurückschaue – ich bin ja jetzt eigentlich Ruheständler – empfinde ich schon Enttäuschung, das muss ich zugeben. Es ist mir, als ob ich mein Berufsleben in einer musikleeren Epoche verbracht habe. Das ist bitter.«

»Falls wir den Begriff der Tradition auf das Gebiet der Interpretation erweitern, erscheint ein konträres Bild, weil die Beschäftigung mit der traditionellen Musik Europas seit 1945 nicht abgenommen, sondern deutlich zugenommen hat. Irgendwo gibt es hier die Hoffnung, dass aus dieser Auseinandersetzung die Tradition wieder lebendig werden könnte. Tradition kann nur aus Tradition entstehen.«

»Wenn ich an die damalige Musik zurückdenke, die war vielleicht verrückt. Aber es war eine andere Zeit. Ich glaube, dass die Komponisten damals wirklich meinten, was sie schrieben. Du sagst, dass die Musik der BRD traumatisiert klang. Aber natürlich war das so. Die wenigen vom Krieg Zurückkehrenden waren traumatisiert und sie schrieben eine traumatisierte Musik.«

»Und was ist dann mit der Sowjetunion?«

»Das kann man nicht vergleichen. Auch die Musik der DDR war anders. Im Sozialismus war der Künstler nicht frei.«

»Das stimmt, im Westen genoss ein Komponist künstlerische Immunität. Er durfte machen, was er wollte. Er hatte keine Verpflichtungen gegenüber dem Volk oder dem Staat.«

»Im Westen wurde gesagt, dass Komponisten in der sozialistischen Welt nicht schreiben durften, was sie wollten. Sonst hätten sie so komponiert, wie ihre Kollegen im Westen. Und das glaubten wir. Schostakowichs Musik wurde im Westen umgedeutet als Protest gegen das sozialistische System.«

»Die Musikgeschichte des 20. Jhs. ist voll von Stigmatisierungen und Lügen.«

»Kann sein. Das fing mit der Kulturpolitik im 3. Reich an.«

»Gab es eine Kulturpolitik im 3. Reich?«

Mehr als fünfzig Komponisten wurden in der NS-Zeit ermordet. Mehr als 200 wurden verfolgt oder gingen ins Exil. Auch abgesehen von den direkten Folgen des Krieges hatte die Kulturpolitik der NSDAP desaströse Auswirkungen auf die deutsche Musiktradition, die bis dahin seit mehr als zwei Jahrhunderten eine Führungsrolle innegehabt hatte. Es ist jedoch eigentlich irreführend, die Kulturpolitik der NSDAP als ‘Kulturpolitik’ zu bezeichnen, da es sich um eine getarnte Rassenpolitik handelte. Überall wo man ‘nichtarische’ Einflüsse fand, wurden diese entfernt bzw. mit Aufführungsverboten belegt. Das betraf sowohl den Stammbaum der jeweiligen Komponisten als auch sog. nicht-arische Einflüsse in den Kompositionen, wie z.B. Jazzmusikelemente oder orientalisch klingende Melodik. Im Endeffekt war dies eine unmögliche Aufgabe, da die gesamte europäische Musiktradition aus kulturellen Begegnungen entstanden ist. Man hätte die gesamte deutsche Tradition unter Aufführungsverbot stellen müssen. Beispielsweise hatten auch Johann Sebastian Bach oder Ludwig van Beethoven nicht-deutsche Vorfahren, und in ihren Kompositionen kann man unzählige „nicht-arische“ Einflüsse finden. Dadurch wurde die ‘Kulturpolitik’ zu einer effizienten Waffe der NS-Terrors: Fast jeder konnte unter Verdacht gestellt werden. Im Prinzip wurde in diesen Jahren ein Massaker an der deutschen Musikkultur ausgeübt. Neben der globalen Sicht auf Deutschland als einer abstoßenden Kultur, die in den Jahrzehnten nach 1939 herrschte, hinterließen die NS mit Vorhaben wie diesen auch den Eindruck einer Idiotenkultur. Zusammen mit Millionen von Menschenopfern hatte man auch, ohne jeglichen Sinn und Zusammenhang, die eigene Tradition vernichtet.

»Meiner Meinung nach kann man ganz und gar von einer musikalischen Kultur des 3. Reiches sprechen. Wenn ich daran denke, wenn ich diese Leute vor mir sehe, ihre Körpersprache, dann höre ich einen gewissen Klang.«

»Welchen Klang?«

»Na gut, ich höre nicht Telemann und Bach.«

»Also, was hörst Du denn? Beethoven? Deutsche Romantik?«

»Die Kulturpolitiker der NSDAP hatte große Mühe mit Beethoven, weil seine Musik voll von Roma-Einflüssen ist. Hör mal den letzten Satz von Opus 131! Das ist Romamusik pur. Wien um 1800 war voll von Romakapellen. Hinzu kam, dass er Pazifist war. Konsequenterweise hätten die NS Beethovens Musik verbieten müssen, aber er war zu wichtig für die Propaganda. Beethoven ist ja der Komponist der Deutchen Romantik.«

»Ja, aber was hörst Du denn? Welche Klang? Sag bitte nicht Wagner.«

»Doch. Wagner. Natürlich. Ich traue mich kaum, es auszusprechen, weil jedes Mal, wenn man Wagner in Verbindung mit dem 3. Reich setzt, wächst er, wird seine Ausstrahlung größer. Ich glaube, er ist inzwischen der einflussreichste Komponist der Musikgeschichte geworden, v.a. wenn man die Anti-Wagnerianer dazuzählt. Dieses Diabolische übt eine enorme Faszination aus, damals wie heute. Wir Musiker sollten eigentlich nicht darauf reinfallen. Wir sollten nachschauen, wie er das Diabolische kompositorisch konstruiert. Natürlich, viele Menschen sind der Meinung, dass diabolisch klingende Musik nicht unbedingt eine diabolische Wirkung auf den Menschen ausübt. Sie reduzieren Musik auf Ästhehik. Sie wissen nicht, dass Musik eine Sprache ist, dass sie Informationen beinhaltet und überliefert.«

»Aber Du weißt es?«

»Wir Musiker sollten es wissen, ja. Wir sollten wissen, was wir da spielen. In den meisten Kulturen wäre eine solche Musik verboten gewesen.«

»Was genau wäre verboten gewesen?«

»Viele Sachen in Wagners Partituren sind auch toll. Wie er die vier Elemente darstellt. Wie das Feuer im Ring dargestellt wird. Toll! Oder Wasser, der Rhein.«

»Aber?«

»Er laboriert mit totaler Trennung von Licht und Dunkelheit. Das wäre in der Kirchenmusiktradition schlicht verboten gewesen. Musik sollte uns stattdessen dazu verhelfen zu sehen, dass Licht und Dunkel die gleiche Quelle hat und nur aus menschlicher Sicht existiert. Das beruhigt den Menschen.«

»Gibt es eine solche Musik?«

»Josquin, Palestrina. Johann Sebastian Bach.«

»Sollen wir nur Josquin und Bach spielen?«

»Im ganzen 19. Jahrhundert hat man sich über dieses Thema gestritten.«

»Dass Wagners Musik einen negativen oder gar gefährlichen Einfluss ausübt, ist es nur eine Theorie.«

»Habt ihr gewusst, dass die Nationalsozialisten im Krieg Generäle nach Bayreuth sandten? Gestärkt kehrten sie zur Front zurück.«

»Und es gab die besondere Beziehung A.H.’s zu Wagners Musik.«

»Dafür kann man ja nicht Wagner belasten. Er lebte ja nicht mehr.«

»Aber seine Musik. Du sagtest doch vorhin, dass die Rockmusik die Essenz der 68er-Bewegung war. Wagners Musik ist die Essenz des 3. Reiches. Es gibt dieses Buch, mit Beiträgen von verschiedenen Musikwissenschaftlern: ‘Wagner im 3. Reich’.«

»Und?«

»Es geht um Wagners frühe Oper ‘Rienzi’. Der junge A.H. sah eine Aufführung zusammen mit seinem Jugendfreund. Später sagte er: ‘Da hat alles angefangen’. Das schreibt der Freund in seinem Buch ‘Mein Freund A.H.’ Das ist unheimlich, weil Rienzi so große und seltsame Ähnlichkeiten hat mit dem, was später geschieht. Es kann als ein Manuskript für den 2. Weltkrieg gelesen werden, aus Sicht des Führers. Später, als er die Wagnerfamilie kennenlernte, schenken sie ihm die Originalpartitur zu Rienzi. Er trug es unter seinem Mantel. Auch als er sich das Leben nahm, hatte er vermutlich die Partitur an seiner Brust. Für uns Musiker ist dies eine unheimliche Geschichte. Aber sie ist wahr. Wir dürfen nicht so tun, als ob Musik ‘schön’ oder ‘hässlich’ ist und sonst keinen Einfluss hat.«

(Schweigen)

»Es gibt ein Land, wo Wagners Musik verboten ist: Israel.«

»Was ich meine, ist nur, dass es nicht darum geht, dass A.H. Wagners Musik mochte. Er mochte ja auch Franz Lehars Operetten. Er war von Wagners Musik besessen

»Ich denke plötzlich an eine völlig andere Geschichte: als Palestrina seine Messe dem Papst überreicht.«

»Gibt es hier eine Verbindung?«

»In beiden Geschichten geht es um den Einfluss der Musik auf den Menschen. Der Vatikan wollte Mehrstimmigkeit in der Kirche verbieten, da sie ihren Einfluss auf den Menschen riskant fand. Dann schrieb Palestrina eine Messe, die ethisch und ästhetisch so schön war wie die Gregorianik. Mehrstimmig ausgeschriebene Gregorianik. Und die Mehrstimmigkeit durfte in der Kirche bleiben. Eine wunderbare Geschichte. Ihr kennt doch den Holzschnitt, wo Palestrina vor dem Papst kniet mit seiner Messe?«

»Mehrstimmig ausgeschriebene Gregorianik?«

»So wurden Palestrinas Messen von den Zeitgenossen beschrieben. Es sind zwei Geschichten, die es auf dem Punkt bringen. Sie symbolisieren Wendepunkte in der Musikgeschichte. Das, wofür die Musik steht.«

»Alle Musiker haben mit diesen Sachen zu kämpfen. Die Frage, die man sich stellt, ist: Wie soll man heute als Musiker arbeiten?«

»Ich glaube, dass man in der Zeit nach 1945 das Handwerk überwinden wollte. Es sollte nur Geist bleiben, nur Idee. Viele neue Komponisten waren nur Komponisten in einem abstrakten oder esoterischen Sinn. Es war legitim, Musik zu komponieren, die eigentlich kaum vorgetragen werden konnte. Aber Musik ist ein handwerklicher Beruf.«

»Ja, das stimmt. Musik ist abstrakt und wir Musiker sind die Handwerker des Abstrakten. Unser Handwerk ist die eigentliche Tradition.«

Zusammenfassung:

Die Abwesenheit von Tradition ist in der Geschichte einmalig. Dass unsere musikalische Tradition etwas Kostbares war und dass wir deshalb Grund haben, die musikalische Entwicklung nach 1945 kritisch zu hinterfragen, wird selten thematisiert. Die Gründe dieser ‘Abwesenheit musikalischer Tradition’ suchen die Musiker in diesem Text v.a. in der Kulturpolitik des 3. Reiches, aber auch in der ausgebliebenen Aufarbeitung in der Nachkriegszeit; die Musik wurde, ganz im Gegensatz zu anderen Bereichen der deutschen Gesellschaft, von einer objektiven Aufarbeitung der NS-Zeit ausgeklammert. Stattdessen entstand eine irreführende Zusammenlegung der Klassischen Moderne mit dem Nachkriegsavantgardismus; wodurch die Abkehr von Tradition als eine Reaktion auf die NS-Zeit eingestuft werden konnte – was gemäß den Musikern in diesem Text einer spiegelverkehrten Schlussfolgerung gleichkommt. In der Hoffnung, dass die Tradition irgendwann trotzdem wieder lebendig werden könnte, einigen sich die Musiker am Ende des Textes darauf, dass ihr musikalisches Handwerk – das ‘Handwerk des Abstrakten’ – die eigentliche Tradition ist. Die Gespräche, die diesem Text zugrunde liegen, wurden mit verschiedenen Musikern geführt; mit Kirchenmusikern, Barockmusikern, Orchestermusikern, Pädagogen, Komponisten, Geigenbauern und Orgelbauern.

 

© Ludwig Frankmar 2021