Einstimmige Musik von Meistern der Mehrstimmigkeit
Auf dieser Seite werden Ausschnitte aus den CD-Booklet-Texten der CD-Reihe ‘Einstimmige Musik von Meistern der Mehrstimmigkeit’ präsentiert.
Georg Philipp Telemann
‘Fantaisies pour la Basse de Violle’
(Ausschnitt aus Booklet zu MINGAIN-CD 2021)
Georg Philipp Telemann ist derjenige Komponist, der immer wieder mit Johann Sebastian Bach nicht nur verglichen, sondern auch verwechselt worden ist. Aus verschiedenen, nicht ganz nachvollziehbaren Gründen haftete ihm seit ein paar Dezennien nach seinem Tod das Image eines eher oberflächlichen Komponisten an, ein Urteil, das der Realität nicht entspricht, dessen Aufkommen jedoch in folgenden Umständen zu suchen ist: Einerseits hielt man in der Zeit der Romantik, wo der Komponist als Genie und Zentralgestalt eines Werkes galt, Telemanns enorme Produktion für suspekt. Konnte soviel Quantität noch Qualität haben? Hinzu kommt, dass Telemann in der Tat auch rein didaktische Werke sowie einige nicht unbedingt allzu ernst gemeinte Kompositionen und sogar einige Witzkompositionen hinterließ, was im 19. Jh. zum Bild eines seriösen Komponisten schlecht passte. In dem lesenswerten Wikipedia-Artikel über Telemann wird beschrieben, wie zwei maßgebende Bachbiographen, Philipp Spitta und Albert Schweitzer, Bach und Telemann verglichen in der Absicht, Bachs Tiefsinn Telemanns Oberflächlichkeit gegenüberzustellen. Dabei unterlief beiden der peinliche Fehler, Bachwerke als Beispiele zu nennen, die sich später als Telemannkompositionen herausstellen. Diese bedauerlichen Versuche zur Stigmatisierung von Telemann haben sicherlich unseren Zugang zu seiner Musik nicht erleichtert. Ein weiterer Grund ist, dass es in Telemanns Produktion kaum ‘Leuchttürme’ gibt, die als Einstieg zu seinem Werk dienen könnten. Mit welcher von seinen über tausend wunderbaren Kirchenkantaten sollen wir anfangen? Die Werke sind größtenteils gar nicht verlegt, geschweige denn aufgenommen, und sie sind fast durchgehend kompliziert vorzutragen. Ein weiteres Hindernis stellt Telemanns sehr persönliche Harmonik dar. Kein Stück, kaum eine Schlusskadenz ohne ungewohnte harmonische Wendungen. Die Kompliziertheit Telemannscher Harmonik übersteigt nicht diejenige Bachs, steht ihr aber auch nicht nach. Bachs Harmonik ist uns aber vertrauter. Trotz ihrer Avanciertheit unterscheidet sie sich nicht unbedingt von den Zeitgenossen, sondern steht in der Mitte spätbarocker Tradition. Dass Telemanns Harmonik für die meisten von uns schwieriger einzuordnen ist, beruht vielleicht auch auf dem Umstand, dass Telemann so gut wie Autodidakt war. Teilweise ist seine Harmonik nicht mehr eindeutig der Barockzeit zugehörig, sondern scheint die Epoche der Bachsöhne, bzw. die Vorklassizistische Übergangsphase vorwegzunehmen.
Neben Solowerken für Tasten- und Zupfinstrumente erschienen in der Barockzeit auch viele Sammlungen mit Solowerken für die kleinen Bassinstrumente, also für Bassgamben und die verschiedenen Violoncelli. Diese Instrumente waren für mehrstimmig angelegte Musik auf eine andere Art als die Tasten- und Zupfinstrumente geeignet, da ihre Saiten den vier Stimmlagen entsprachen. In Italien entstanden vorrangig Werke für die Violoncelli, während man außerhalb Italiens hauptsächlich Werksammlungen für die Bassgambe findet. Eine Ausnahme sind die Solosuiten von Johann Sebastian Bach, der offenbar ein besonderes Interesse für das Violoncello hatte. Georg Philipp Telemann hingegen bevorzugte wie die meisten Komponisten seiner Zeit die Bassgambe, als Solo- sowie als Bassinstrument. Obwohl die Violoncelli und die Bassgamben miteinander nicht verwandt sind – sie gehören zu verschiedenen Familien –, sind sie musikgeschichtlich kaum auseinanderzuhalten. Bis in das späte 17. Jh. fehlte es an Begriffen mit Trennwirkung; beide Instrumente wurden als Gamben bezeichnet, beide Spieler als Gambisten. Es waren seinerzeit die ‘Gambisten’ die auch die kleinen Bassinstrumente der Violinfamilie traktierten, und sie spielten auf diesen Instrumenten wie auf Bassgamben (mit dem Bogen im Untergriff). Die Instrumente teilten sich die gleichen Aufgaben als Bassinstrumente und sie teilten sich auch das solistische Repertoire; auf einem Barockcello mit fünf oder sechs Saiten konnte man problemlos Gambenwerke vortragen. Es gab auch zahlreiche Versuche, die Vorzüge der beiden Instrumente zu verbinden. Zahlreiche Mischformen zwischen Gamben und Violoncelli in den Musikmuseen und in der Ikonographie zeugen davon. Der Kontrabass ist bis heute eine solche Mischform geblieben. Die Aufnahmen auf dieser CD – auf einem fünfsaitigen Barockcello des Gambenbauers Louis Guersan – sind daher nicht als Transkriptionen von Gambenwerken einzustufen, sondern entsprechen der damaligen Spielpraxis. (…)
©Ludwig Frankmar 2021
Johann Sebastian Bach
‘Suites a Violoncello Solo senza Basso, 2 | 4 | 6
(Ausschnitt aus Booklet zu MINGAIN-CD 2024)
Die Sammlung der Cellosuiten kann wie ein Katalog über die mehrstimmigen Möglichkeiten des Violoncellos gelesen werden. Jede der 36 Sätze, ja quasi jede Passage offenbart neue Möglichkeiten dieser Kunstform. Das Violoncello konnte diesen Aufgaben auf eine besondere Art nachgehen, da ihre vier bis fünf Saiten in etwa den Stimmlagen Bass-Tenor-Alt-Sopran entspricht. Aber für welches Violoncello waren die Suiten eigentlich gedacht? Dem, was wir heute als ‘Violoncello’ bezeichnen, entsprach nämlich zu Bachs Zeiten kein festgelegtes Instrument, sondern eine ganze Instrumentenkategorie. Es ist daher nicht auszuschließen, dass die Suiten ursprünglich für verschiedene kleine Bassinstrumente gedacht waren. Besonders häufig wurde das allerkleinste Mitglied der Cellofamilie, das Violoncello piccolo, mit der Sammlung in Zusammenhang gebracht. Zuerst ging man davon aus, dass es sich beim ‘Violoncello piccolo’ – ein Begriff, den wir v.a. aus den Bachkantaten kennen – um ein ‘etwas kleineres Violoncello’ handelte. Später wurde festgestellt, dass es sich um ein noch wesentlich kleineres Instrument handelte; das Pendant in Norditalien war das Violoncello da Spalla (‘Schultercello’). Die Piccolotheorie, die im 20. Jh. nur der letzten Suite gegolten hatte, wandelte sich später und wird heute v.a. mit den drei ersten Suiten in Zusammenhang gebracht. Diese Suiten, die Verwandtschaften mit Werken aus Bachs Weimarer Zeit um 1715 aufzeigen, scheinen eine stilistische Einheit zu bilden. Welches kleine Bassinstrument stand Bach in Weimar zur Verfügung? Auf den Lohnzetteln sind keine Cellisten, sondern nur Violinisten vermerkt, weshalb eigentlich nur das Violoncello Piccolo infrage kommt – ein Instrument, das nicht von Gambisten bzw. Cellisten, sondern nur von Bratschisten bzw. Violinisten traktiert werden konnte. (Das Instrument wurde um die Schulter gehängt und wie eine große Bratsche gespielt). Bei den späteren Suiten der Sammlung gibt es keinen Grund zu vermuten, dass sie für ein Piccolo-Cello gedacht waren. Auch nicht im Falle der wahrscheinlich erst um 1725 geschriebenen 6. Suite, die eine zusätzliche 5. Saite verlangt, da auch Celli der Normalgröße häufig mit einer fünften, in der Regel höheren Saite bespannt wurden. Mit der Theorie einer zehnjährigen Entstehungszeit – von Weimar um 1715, über Köthen nach Leipzig um 1725 – die mit dem Wandel des Instruments einhergeht, hat die Instrumentalverwirrung um Bachs Cellosuiten eine eigene Logik bekommen. Wir haben es also aufgegeben, ein spezifisches ‘Bach-Cello’ zu suchen.
In Konkurrenz zu dieser Theorie steht die ältere Theorie, dass die Suiten als einheitliche Sammlung für Fürst Leopold in Köthen um 1720 geschrieben wurden, für ein Cello der Normalgröße oder etwas kleiner. Aber vielleicht wurden die Suiten in Köthen zwar zusammengestellt, jedoch aus älteren Vorlagen aus Weimar. In dem Fall haben beide Theorien nebeneinander Gültigkeit, denn obwohl wir heute den Eindruck haben, dass nur die ersten drei Suiten ein einheitliches Konzept bilden, während die drei letzten Suiten sich instrumental wie stilistisch deutlich voneinander unterscheiden,cwurdenxum 1726 alle Suiten in einer Handschrift des Bachschülers Johann Kellner unter dem Titel ‘Sechs Suonaten / Pour le Viola de Baßo’ zusammengefasst. (Der Begriff ‘Viola de Baßo’ ist kaum einzuordnen, da wir es nur aus dieser Handschrift kennen; ‘Viola’ ist nicht mit der heutigen Bratsche zu verwechseln, sondern war der Sammelbegriff sämtlicher Streichinstrumente.) Schätzungsweise vier Jahre später, um 1730, wurde eine Handschrift von Anna Magdalena Bach zusammengestellt und diesmal wurde die Sammlung ‘6 Suites a Violoncello Solo senza Basso’ betitelt. Zu dieser Zeit hatte die Form des Violoncellos, so wie Johann Sebastian Bach sie bis um 1730 gekannt hatte, angefangen sich festzulegen als ein Instrument, das im großen Ganzen dem heutigen Violoncello ähnelte, nur häufig, in Bachs Umfeld, mit fünf Saiten bespannt war und einen wenige Zentimeter kleineren Korpus aufwies. Warum das Violoncello piccolo in diesen Handschriften nicht vorkommt, ist rätselhaft. (Wenn das Instrument in den Kantaten eingesetzt wurde, war dies stets angegeben). Hatte sich Tradition (Entstehungsgeschichte) und Überlieferung (Handschriften) in Bezug auf die Suiten schon um 1730 getrennt? Oder stimmt die Piccolotheorie nicht?
Die Cellosuiten sind wie viele Instrumentalsammlungen aus dieser Zeit didaktisch angelegt, und man könnte die Sammlung auch als ‘Celloübung’ bezeichnen, wie die Cembalopartiten der ‘Clavierübung’. Mit ‘Übungen’ war das Traktieren des Instruments gemeint, sowie die Rhetorik und die Charakteristik und richtige Betonung der verschiedenen Tanzformen in ihren italienischen und französischen Stilisierungen. Hinzu kam die theologische Thematik, die für uns heute häufig schwer zu entschlüsseln ist. (…)
Es ist spezifisch, dass zu dieser Sammlung nie ein Auftraggeber oder Widmungsträger gefunden wurde. Vielleicht können wir sie als Bachs persönliche Entwürfe betrachten, um die besonderen Fähigkeiten des kleinen Bassinstrumentes zu erforschen, die dann in seinen Kirchenkantaten eingesetzt wurden, zu denen die Cellosuiten wohl in direkter Abhängigkeit entstanden sind. In Bachs Kantatenwerk ist das kleine Bassinstrument unverzichtbar. Hier wurden dem Violoncello seine wohl wichtigsten Aufgaben überhaupt zugeteilt.
©Ludwig Frankmar 2024