Einstimmige Musik von Meistern der Mehrstimmigkeit

Programmtext zur CD (Mingain 2019)
Werke von Giovanni Bassano, Johann Sebastian Bach und Carl Philipp Emanuel Bach (Ludwig Frankmar, Barockcello)

Einstimmige Musik hat in der Kirchenmusiktradition einen besonderen Stellenwert, da es sich bei dem alten Kirchengesang, der Gregorianik, um einen einstimmigen Gesang handelte. Die Entstehung der Mehrstimmigkeit bedeutete keineswegs einen Abbruch dieser Tradition, da im Zeitalter der Kontrapunktik Ein- und Mehrstimmigkeit nicht als Gegensätze aufgefasst wurden. In Palestrinas Messen lösten sich einstimmige und mehrstimmige Sätze ab, wobei die polyphonen Sätze von den Zeitgenossen als ‘mehrstimmig ausgeschriebene Gregorianik’ beschrieben wurden. Zu diesem Hintergrund war es kein Widerspruch, als italienische Komponisten in der Renaissance – der Epoche der kathedralischen Kontrapunktik – anfingen, Musik für Soloinstrumentalstimmen zu schreiben.
In Verbindung mit Renaissance und Barock taucht des Öfteren der Begriff der ‘linearen Kontrapunktik’ auf, bei welcher der harmonische Zusammenhang nicht vertikal, durch gleichzeitig erklingende Töne, sondern horizontal, durch aufeinander folgende Tonreihen dargestellt wird. Im Prinzip ist damit die Trennlinie zwischen Ein- und Mehrstimmigkeit aufgehoben. Die architektonische Vorgehensweise, die Komponisten im 16. Jh. verwendeten, um mehrstimmige Musik für Soloinstrumentalstimmen zu komponieren, unterschied sich im Grunde genommen nicht von den Kompositionsweisen in der mehrstimmigen Musik, wenngleich in verdichteter Form: musikalische Elemente wurden vergrößert, verkleinert, umgedreht, auf den Kopf gestellt und ineinander geschoben. Die Ricercate – heute als eine Vorform der Fuge eingeordnet – könnten damals als ornamentierter Kirchengesang aufgefasst worden sein. Der alte Kirchengesang, die Gregorianik, hatte so betrachtet schon das ganze Spektrum an Harmonik in sich getragen, welches in der Mehrstimmigkeit zur Entfaltung kam.

Von Venedig sind aus dem 16. Jahrhundert verschiedene Ricercate-Sammlungen für Soloinstrumente überliefert. Ein Höhepunkt wurde 1585 mit den acht Ricercate von Giovanni Bassano erreicht. Bassano, einer der großen Meister der späten Renaissance, war ab 1576 am Markusdom tätig, u.a. als Zinkspieler und später als Kapellmeister. Er hatte dort Kontakt zu Girolamo Dalla Casa und eventuell auch zu Heinrich Schütz.
Der schwebende Puls der Soloricercata wich in der Barockzeit zugunsten einer häufig in 4/4-Takt auskomponierten fugistischen Musik mit festgelegtem Puls zurück. Tanzformen wurden hineingebracht und wurden im Spätbarock mit der Form des Satzes synonym. Die letzten Sammlungen in der Kompositionsform der mehrstimmig angelegten Musik für Soloinstrumentalstimmen waren die um 1720 von Johann Sebastian Bach komponierten sechs Violinsoli und die sechs Cellosuiten.

Bachs Cellosuiten haben eine nicht ganz übersichtliche Entstehungsgeschichte. Während man lange davon ausging, dass sie für Fürst Leopold, dessen Hofkapellmeister Bach damals war, in Köthen um 1720 zusammengestellt wurden, wird heute der erste Teil der Sammlung aus stilistischen Gründen Weimar (um 1715) und die letzte Suite Leipzig (um 1725) zugeordnet. Die konkrete Feststellung des Instrumentariums ist schwer nachzuvollziehen, da sich in dieser Zeit die Gruppe des “kleinen Bassinstruments” wandelte und Bach manchmal verschiedene “Violoncelli” zugleich einsetzte. (*)

Durch die Cellosuiten wurde von Johann Sebastian Bach das Violoncello als Soloinstrument den wichtigsten Soloinstrumenten der Barockzeit, der Orgel, dem Cembalo und der Violine, gleichgestellt – eine Angelegenheit, die Cellisten bis heute verblüfft. Nie zuvor und nie danach hat jemand dem kleinen Bassinstrument so große Fähigkeiten zugeschrieben. Sie können wie ein Katalog über die mehrstimmigen Möglichkeiten des Violoncellos gelesen werden. Quasi jeder Takt offenbart neue Möglichkeiten dieser Kunstform. Das Violoncello konnte diesen Aufgaben auf eine besondere Art nachgehen, da den vier Saiten in etwa die vier Stimmlagen Bass–Tenor–Alt–Sopran entsprechen.

Der Ausklang der Kirchenmusiktradition im 18. Jh. war zugleich das Ende der Kontrapunktik und somit das Ende der Einstimmigkeit, da eine nicht-kontrapunktische Einstimmigkeit ohne musikalischen Sinn gewesen wäre. Entsprechend war der klassisch-romantischen Konzertmusik Einstimmigkeit fremd. Der berühmteste Violinist des 19. Jh., Joseph Joachim, kannte durch Johannes Brahms die Violinsoli Bachs, meinte jedoch, dass zu dieser Musik eine begleitende Klavierstimme hätte hinzugefügt werden müssen, um sie konzerttauglich zu machen. Die Violinsoli und die Cellosuiten von J. S. Bach bekamen also keine Nachfolger. Jedoch sollte zweihundert Jahre später diese Tradition wieder zum Leben erweckt werden: Max Regers Drei Suiten für Cello solo (Opus 131c, 1914), die sich deutlich an den Bachschen Vorbildern anlehnten. Diese Werke lösten eine Renaissance der Sololiteratur für Cello aus, und gegen Ende des 20. Jhs. gab es kaum Komponisten, die zu dieser Gattung keinen Beitrag leisteten.

Bestand zwischen der alten Tradition und Ihrer Fortsetzung im 20. Jh. eine echte Verwandtschaft? Die Berechtigung dieser Frage beruht v.a. auf dem Umstand, dass die neue Musik keine Kontrapunktik kannte (**) bzw. diese nur fragmentarisch einsetzte, während die Suiten Bachs und ihre Vorgänger durchgehend mehrstimmig angelegt waren. Darüber hinaus verfolgten die neuen Komponisten verschiedene, höchst unterschiedliche ästhetische Ausdrucksformen, während es in der alten Musik nicht um Ästhetik, sondern einzig um Inhalt ging, und Inhalt bedeutete stets religiösen Inhalt, weshalb die Werke durchdrungen waren von einer für uns heute schwer zu entschlüsselnden christlichen Symbolsprache. Die Voraussetzung bzw. die Grammatik dieser Sprache war die Kontrapunktik, die zu dieser Zeit noch als ‘Klingende Theologie’ bezeichnet wurde. Ihr Inhalt entzieht sich häufig einer konkreten Zuordnung, jedoch herrscht im Bezug auf die beiden Cellosuiten auf dieser CD Klarheit:

Die 3. Suite wird Pfingsten zugeordnet: Das Kommen des Heiligen Geistes wird durch fallende Bewegungen von oben nach unten, durch das ganze Register des Instruments symbolisiert, welche die drei Hauptsätze Prélude, Allemande und Courante einleiten. Teile aus dem Prélude werden zudem von Bach in der Pfingstkantate BWV 172 ‘Erschallet, ihr Lieder’ eingesetzt – ein weiteres Indiz dafür, dass diese Suite schon zu Bachs Weimarer Zeit komponiert wurde.
Die 4. Suite wurde in Es-Dur notiert – drei b-Vorzeichen symbolisieren die Trinität. Die Symbolik ist die gleiche wie in dem in Köthen entstandenen Präludium und Fuge Es-Dur für Orgel aus der 3. Clavierübung. Allerdings fehlt es im Hauptmotiv bei den Gottvater symbolisierenden französischen Punktierungen, die ursprünglich Assoziationen zum Hofe des Sonnenkönigs weckten – eine Symbolik, die später auf Gott übertragen wurde. In aller Deutlichkeit vorhanden ist jedoch die Symbolik der zur Erde herabsteigenden Schritte des Sohnes (z.B. Preludium, Takte 71-73) sowie die Symbolik der von der sonstigen Thematik losgelösten Bewegungen des Heiligen Geistes (Preludium, Takte 49-51).

Ein weiterer Unterschied zwischen der alten Musik und ihrer Fortsetzung im 20. Jh. sind die Tanzformen, die einen grundlegenden Charakter der einzelnen Sätze darstellen. Zwar griffen die neuen Komponisten wieder Satztypen wie ‘Sarabande’ oder ‘Menuett’ etc. auf, jedoch entsprachen diese nur schablonemäßig den alten Tanzformen, die avancierter waren. Die Kunst, Musik für eine einzelne Instrumentalstimme zu schreiben, die einen komplexen kontrapunktischen Zusammenhang darstellte und in Tanzformen zusammengefasst wurde und darüber hinaus einen religiösen Inhalt vermitteln sollte, ist mit der Barockzeit bzw. mit der Kirchenmusiktradition ausgestorben.

Zwischen den zwei unvereinbaren Epochen der alten Kirchenmusik und der klassisch-romantischen Konzertmusik liegt die ‘Vorklassizistische Übergangsphase’. Carl Philipp Emanuel Bach ist der vorherrschende Komponist dieser etwa ein halbes Jahrhundert messenden Phase. Der neue Stil der ‘Empfindsamkeit’ trennt seine Musik deutlich vom Barock. Bei Carl Philipp Emanuel Bach ist jedoch keine eindeutige Entwicklung in Richtung Wiener Klassik festzustellen. Eher sagen seine harmonisch gewagten Kompositionen die Romantik voraus. Carl Philipp Emanuel Bach wurde im Jahre 1741 zum Hofcembalisten Friedrichs II. von Preußen in Potsdam ernannt. Hier schrieb er neben Werken für seinen Traversflöte spielenden Arbeitgeber u.a. mehr als 100 Cembalosonaten, jedoch keine einzige Sonate für Cello – eine legitime Gelegenheit also, um seine „Solosonate für Traverso“ hier für das Cello zu adaptieren, zumal es Friedrich der Große selber war, der im Jahr 1773 den französischen Cellisten Jean-Pierre Duport nach Potsdam holte, damit sein Neffe und Nachfolger, König Friedrich Wilhelm II., dieses Instrument erlernen konnte.

Es wird überliefert, dass Friedrich über die Solosonate seines Hofcembalisten wenig begeistert war, und er soll sie nie vorgetragen haben. Sicher beruhte dies nicht an mangelnden Fähigkeiten. Friedrich soll ein hervorragender Traversflötenspieler gewesen sein. Es ist naheliegender zu vermuten, dass dies mit der ausgestorbenen Musikform der mehrstimmig angelegten Einstimmigkeit zu tun hatte. Kontrapunktik galt als altmodisch. In Potsdam wurde eher die moderne, ‘galante’ Musik bevorzugt. Aus heutiger Sicht ist diese Sonate ein kostbares Beispiel einer Fortsetzung des kontrapunktischen Denkens in der Barockzeit, gekleidet in ein Gewand der Romantik.

(*) Auch die Stimmung ist nicht ganz festzulegen. Es gibt mehrere Gründe anzunehmen, dass es sich um ein Instrument in der Stimmung G-D-a-e handelte, u.a. da in der letzten Suite (Nr. 6) die fünf Saiten C-G-D-a-e angegeben werden und hier eine Klammer um die vier hohen Saiten gemacht wird. Diese Theorie wird dadurch gestärkt, dass die angegebene C-Saite in der 6. Suite kaum angespielt wird – in zwei der Sätze nur im Schlussakkord –, während die angegebene G-Saite so viel angespielt wird wie die angegebene C-Saite in den anderen Suiten (Nr. 1 bis 5). Die fünf ersten Suiten der Sammlung sind daher, wenn diese Theorie stimmt, in Scordatur notiert (was bei Bach öfters vorkommt), wodurch diese Suiten, wie auf dieser Aufnahme, eine Quinte höher klingen als in den Handschriften angegeben.

(**) Inwiefern es in der Romantik noch Komponisten gab, die als Kontrapunktiker hätten eingestuft werden können, ist eine Streitfrage. Komponisten, die für diese schmeichelhafte Bezeichnung in Frage kämen, wären z.B. Johannes Brahms, Richard Strauss oder Arnold Schönberg. Von Max Reger stammt die Aussage, dass es zwischen Kontrapunktik und Harmonielehre ‘gar keinen sonderlich großen Unterschied’ gäbe.