Giovanni Battista Degli Antonii’s
RICERCATE
SOPRA IL VIOLONCELLO
O’ CLAVICEMBALO
Gegen Ende des 17. Jhs. etablierte sich die Stadt Bologna als wichtigstes Musikzentrum zwischen Rom und Venedig. An der Basilika San Petronio wurden Anstrengungen unternommen, die Instrumentalkapelle den enormen Dimensionen der Basilika anzupassen. Einen Austausch gab es besonders mit der herzoglichen Kapelle und dem Opernhaus im nahe gelegenen Modena. Parallel dazu wurde in Bologna die unabhängige Accademia filarmonica gegründet, wo eine Instrumentalmusik gepflegt wurde, die anders als die eher theatrale venezianische Sonate offen für Details und Nuancen war. In diesem Umfeld nahm in Bologna und Modena auch das solistische Cello-Repertoir seinen Anfang, und zwar mit drei erstaunlichen Werksammlungen für Cello solo ohne Basso: Giovanni Battista Degli Antonii’s Ricercate sopra il Violoncello (1678), Domenico Gabrielli’s 7 Ricercari (1689) und Domenico Galli’s Trattenimento sopra il Violoncello (1691). Inwiefern man Degli Antonii’s Sammlung wirklich als die früheste Cellomusik betrachten will, ist eine offene Frage, da bis zu dieser Zeit selten festgelegte Instrumentalangaben gemacht wurden. Es ist aber das erste Mal, dass eine Sammlung spezifisch dem Violoncello gewidmet wurde – und was für eine Sammlung! Es ist die zweit umfangreichste Sammlung für das Instrument bis heute – im Ausmaß nur von den Suiten Bachs übertroffen.
Die Instrumentfrage
In der Renaissance hatte das architektonische Denken seinen Einzug in Musik und Malerei gefunden; die Proportionen mussten stimmen, jeder Baustein musste in Relation stehen zur Gesamtheit. Dieses Denken prägt auch Degli Antonii’s Ricercate. Sie sind kontrapunktisch, also mehrstimmig angelegt, und im Detail architektonisch ausgearbeitet. Der Komponist zieht jedes Register seines Könnens und schöpft die spieltechnischen und mehrstimmigen Fähigkeiten des Violoncellos ganz aus. Aber von welchem Cello? Das geht aus dem Notentext nicht eindeutig hervor. Bei den beiden späteren Sammlungen – denen von Gabrielli und Galli – herrscht bezüglich des Instrumentariums Klarheit: Domenico Gabrielli’s Ricercari sind für ein Violoncello grande (wie z.B. eine größere Stradivari) in der Stimmung C-G-D-g gedacht und die 12 Sonaten von Domenico Galli für das größte, in B gestimmte Cello (einen Kirchenbass). Diese Sammlungen sind aber um 10 Jahre später entstanden und unterscheiden sich stilistisch wie instrumental so grundlegend von Degli Antonii’s Ricercate, dass ein Vergleich kaum aufschlussreich ist. 1675-1680, zur Zeit der Entstehung von Ricercate sopra il Violoncello war aber ein Cellist namens Pietro Franceschini an San Petronio tätig, der bei der Entstehung von Ricercate sopra il Violoncello eine Rolle gespielt haben könnte. Auch kann es einen persönlichen Kontakt gegeben haben, da Degli Antonii sein Leben lang in Bologna tätig war, 1654-1657 als Posaunist an San Petronio und später als Organist an San Giacomo Maggiore. Es ist naheliegend zu vermuten, dass seine Stelle an San Petronio im Zuge von Neustrukturierungen eingespart wurde. Das Konzept lautete: mehr Streicher und weniger Bläser. Degli Antoniis Instrument – die Posaune, das Instrument der Engel – musste Platz machen für moderne Streichinstrumente. Der flächige Streicherklang, mit Gruppen aus mehreren Instrumenten, die die Instrumentation in den kommenden Jahrhunderten prägen sollten, nahm hier seinen Anfang. An San Petronio wurde um 1670 eine Liste zusammengestellt, wo die Violinfamilie in fünf Instrumente eingeteilt wurde. Neben Violine und Bratsche wird Tenorviola, Violone und Kontrabass genannt. Was sich hinter den Begriffen ‘Tenorviola’ und ‘Violone’ verbirgt, kann als ein kleineres und ein größeres Cello (ein ‘Cellino’) beschrieben werden. In den Ricercate sopra il Violoncello deuten wiederkehrende Hohe Lagen (bis d’) darauf hin, dass die Sammlung für solch ein kleineres fünfsaitiges Instrument gedacht ist, also eine ‘Tenorviola’ bzw. ein ‘Cellino’. Im Vorwort der Ausgabe von Edizione Zanibon (Padova 1975) schlägt der Herausgeber, Lauro Malusi, sogar ein sechsaitiges Violoncello vor.
Ricercate sopra il Violoncello
Die einleitende Ricercata in d-Moll ist ein Preludio im improvisativen Stil. Es gibt nur ein Metrum (Sechzehntel). Die danach folgende Ricercata steht ebenfalls in d-Moll. Hier ist ‘Ricercata’ – ein Begriff, der zu dieser Zeit offen war und verschiedene Satztypen beschreiben konnte – in ihrer ursprünglichen Bedeutung als Satz im fugistischen Stil zu verstehen. Die Sammlung ist um Primzahlkombinationen aufgebaut. Beispielsweise besteht Ricercata II aus 3 Teilen (tempus imperfectum und tempus perfectum, also 4- und 3-Takt lösen einander ab). Das Fugenthema kehrt 5 Mal wieder. Dieses Thema besteht aus 5 + 7 Töne. Der einleitende Hauptteil ist 73 Takte lang, die dann folgenden zählen insg. 41 Takte. Dieses Denken steht in sakraler Tradition. Primzahlen sind unzerstörbar bzw. ewig. Bis ins frühe 17. Jh. ist diese Praxis sehr ausgebreitet. Bei Girolamo Frescobaldi (1583-1643) findet man Beispiele dafür, wie ein Komponist ‘schummelt’, um die Anzahl der Takte als Primzahlen zählen zu können. Zwei Takte könnten durch das Entfernen des Taktstrichs als einer gezählt werden, oder es diente ein hinzugefügter Taktstrich dazu, einen Takt als zwei zählen zu können. Es handelte sich aber nicht in erster Linie um Symbolik. Primzahlkonstruktionen ergeben auch ein anderes Hörerlebnis als die regelmäßigen Strukturen von 4, 6 oder 8 Takten, die wir im späten Barock finden. Im Zeitfluss der Primzahlkonstruktionen nimmt das Lokalisierungsvermögen des Zuhörers ab. Wir wissen nicht, wo in dem Werk wir uns befinden. Die Zeit scheint ‘aufgehoben’. Es fehlt der Musik nicht an Tanzmusikelementen, die Tanzformen sind aber nicht synonym mit der Struktur des Satzes. Diese Eigenschaften deuten darauf hin, dass die Werke als sakrale Musik einzuordnen sind. Falls sie für den Cellisten an San Petronio gedacht waren, ist dies eine faszinierende Vorstellung: Gerade in diesem gigantischen Kirchenbau – dem fünftgrößten der Welt – soll die früheste Solomusik für Cello geklungen haben? Dies wäre ein schönes Beispiel für die akustisch-architektonische Verbindung zwischen Kirchenraum und Streichinstrument.
Nach den einleitenden beiden Ricercate in d-Moll folgen zwei weitere Doppelsätze: Ricercate III+IV in A-Dur und Ricercate V+VI in a-Moll. Zweifelsohne haben wir vor uns Frühformen von dem, was sich bei Johann Sebastian Bach zu ‘Präludium und Fuge’ entwickelte: Ricercate I+III+V sind Präludien, Ricercate II+IV+VI sind Sätze in präfugalem Stil. Der 2. Teil der Sammlung ist komplizierter und verschlüsselter. Inwiefern hier theologische Thematik oder sonstige kompositorische Konzepte zugrunde liegen, hat sich für mich bisher nicht offenbart. Die Tonarten sind e-Moll, d-Moll, C-Dur, g-Moll, G-Dur und die Sammlung schließt mit einer siebenteiligen Ricercata in D-Dur, der Tonart von Ostern und Auferstehung – eine Symbolik, die in das Werk mit aufgehenden Sequenzen durch das ganze Register des Instruments eingemeißelt wird.
Handelt es sich wirklich um Solowerke ohne Begleitung?
Den Werktitel Ricercate sopra il Violoncello ist der zweideutige Zusatzangabe o’ clavicembalo (oder Cembalo) mit kleinen, fast übersehbaren Buchstaben hinzugefügt worden. Eine ähnliche Angabe finden wir z.B. in Violinsonaten von Corelli: Der Generalbass kann dort durch clavicembalo o’ violoncello ausgeführt werden. Oder sind beide Instrumente gemeint? Kann o’ (oder) auch und bedeuten? Bezüglich einer Bassstimme lautet die Antwort: Ja, der Generalbass kann auf Cembalo, auf Cello, oder auf beiden Instrumenten, oder auch auf anderen geeigneten Instrumenten ausgeführt werden. Von Degli Antonii erschien drei Jahre später (1690) eine weitere Sammlung von 12 Ricercate, diesmal für Violine und Violoncello oder Cembalo (per Violino e Violoncello o’ clavicembalo). (Zu dieser Sammlung ist die Violinstimme, also die Solostimme, verschollen). Die Angabe ‘oder Cembalo’ ist hier nicht mit kleineren Buchstaben angegeben, und während in den Ricercate sopra il Violoncello durch die alleinige Cellostimme ein komplettes musikalisches Geschehen dargestellt wird, haben wir hier nur eine gewöhnliche Basso-continuo-Stimme vor uns.
In sieben der zwölf Ricercate sopra il Violoncello gibt es spärliche Generalbassbezifferungen. Das wiederum deutet darauf hin, dass eine improvisierende Cembalostimme der Cellostimme hinzugefügt werden könnte. Die Werke hätten in dem Fall Verwandtschaft mit älteren Vorlagen wie beispielsweise Frescobaldi’s Canzonen ‘a basso solo’, die für ein solistisches Bassinstrument mit improvisiserendem Cembalo gedacht sind. Bei Frescobaldi ist die linke Hand des Tastenspielers und der Bassostimme jedoch nur fragmentarisch identisch. Dass beide Instrumente eine mehrstimmig angelegte Bassstimme parallel spielen sollen und der Cembalist gleichzeitig darüber improvisieren sollte, wäre sehr ungewöhnlich, jedoch nicht unbedingt auszuschließen. Aber warum wurde in dem Fall ‘o clavicembalo’ mit so kleinen Buchstaben geschrieben? Es handelt sich wohlmöglich um eine verkaufstechnische Angabe: Cembalo spielten viele, Cello nur ganz wenige.
Die Zweifel daran, ob es sich bei der Werksammlung eher doch nicht um eine Basso-Contino-Stimme handelt, waren stets vorhanden. Diese Zweifel sind aus einer klassisch-romantischen Perspektive verständlich, da die spätere Konzertmusik keine Musik wie diese kannte, und als um 1990 in der Universitätsbibliothek in Modena eine Violinstimme zu sämtlichen 12 Ricercate gefunden wurde, betrachtete man diesen Verdacht als bestätigt (auch weil es verwirrenderweise, wie erwähnt, eine spätere Ricercate-Sammlung von Degli Antonii gibt, zu denen die Violinstimme in der Tat verschollen ist). Erst eine Ausgabe von Musedita* (Italien) im Jahre 2008 räumte mit den Missverständnissen auf: Nichts deutet darauf hin, das diese Geigenstimme von Degli Antonii geschrieben sein sollte. Der Herausgeber, Alessandro Bares, schreibt in seinem Vorwort:
Bedauerlicherweise endete die Begeisterung für diese ‘Entdeckung’, als die Version geprüft bzw. vorgetragen wurde. Falls die Fassung für Cello solo uns etwas ratlos machen kann, ist die Version mit Violine vollkommen sinnlos (in der Musikwissenschaft kann man nicht ‘häßlich’ sagen, aber das ist genau, was ich sagen möchte). Die Violinstimme hat nichts damit zu tun, was man von einem Vertreter der Emilianische Schule (Corelli, Vitali, Bononcini, etc.) erwartet; es ist nichts mehr als eine pedantische Übung in Kontrapunktik, geschrieben von einem unbekannten Musiker, der es auf eine sehr ungeschickte Art probiert hat, Werke zu ‘vervollständigen’, die gar nicht Basso-continuo-Stimmen sind und gar nicht vervollständigt werden müssen.
Seit das Missverständnis um die ‘wiedergefundene Violinstimme’ aufgeklärt ist, steht es Cellisten wieder frei, sich mit dieser grandiosen Werksammlung zu beschäftigen. Dieser Umstand wird aber den Ricercate sopra il Violoncello kaum dazu verhelfen, ihren Platz im Cello-Repertoir einzunehmen: Schon als sie 1687 im Druck erschienen, waren sie veraltet – überholt von einer moderneren, gesanglicheren Musik. Sie sind Relikte aus der Frühzeit des Cellos, wo es für eine kurze Zeit so aussah, als würde sich die solistische Cellomusik in eine ganz andere Richtung entwickeln.
* Die sehr empfehlenswerte Ausgabe von Musedita gibt auch die anonyme Violinstimme wieder. Es ist, soweit ich weiß, die einzige Ausgabe, die die Druckvorlage aus dem Jahre 1687 ohne Veränderungen wiedergibt. In der älteren Ausgabe von Zanibon (1976) sind Teile aus den Ricercaten leider entfernt und viele Vorzeichen geändert. Eine Neuausgabe des Verlages Schott gründete sich nicht an den Erstdruck (1687), sondern auf diese Ausgabe, enthält aber auch Faksimilen vom Erstdruck.
** aus dem Vorwort von Alessando Bares: ‘Unfortunately enthusiasm for this ‘discovery’ ended as soon as the ‘reconstructed’ version was examined, or performed: if the version for cello solo can leave us a bit perplexed, the version with violin is completely senseless (in musicology you cannot say ‘ugly’, but this is exactly what I wanted to say). The violinpart has got nothing to do with what You expect from a violin part written by a member of the Emilian School (Corelli, Vitali, Bononcini, etc.); it is nothing more than a pedantic exercise in counterpoint, written by an unknown musician who tried to ‘complete’ in a very clumsy way pieces which were not at all basso continuo parts, and didn’t need to be completed.’ (…)